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Ein „Glücksfall“ wird 70

Interview mit Politikprofessorin Sabine Kropp zum Grundgesetz-Jubiläum / Öffentliche Podiumsdiskussion am 5. November, 18 Uhr / Tagung am 4./5. November / Anmeldung für beides bis Ende Oktober möglich

24.10.2019

Vor 70 Jahren: Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz unterzeichnet, das die Mitglieder des Parlamentarischen Rates am 8. Mai 1949 verabschiedet hatten.

Vor 70 Jahren: Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz unterzeichnet, das die Mitglieder des Parlamentarischen Rates am 8. Mai 1949 verabschiedet hatten.
Bildquelle: InstagramFOTOGRAFIN / Pixabay.com

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“: Mit diesen ikonischen Worten hat das Grundgesetz Menschenrechte zur Grundlage der politischen Ordnung Deutschlands erklärt. Siebzig Jahre ist der Verfassungstext nun schon in Kraft – für die Wissenschaft Anlass, Bilanz zu ziehen: „70 Jahre Grundgesetz – Der deutsche Bundesstaat im Spiegel internationaler Erfahrungen“ lautet der Titel einer Tagung im Bundesrat, auf der insbesondere über den deutschen Föderalismus diskutiert werden wird. Die Tagung endet mit einer öffentlichen Podiumsdiskussion zur Frage, ob es eine neue Bundesstaatsreform geben sollte. Campus.leben sprach mit der Organisatorin Sabine Kropp, Professorin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin.

Für flexibel und bewährt hält Sabine Kropp föderale Systeme: „Sie können auf komplexe Probleme reagieren, indem sie Kompetenzen auf die föderale Ebene verschieben oder die Kooperation zwischen Gliedstaaten und Bund enger gestalten.“

Für flexibel und bewährt hält Sabine Kropp föderale Systeme: „Sie können auf komplexe Probleme reagieren, indem sie Kompetenzen auf die föderale Ebene verschieben oder die Kooperation zwischen Gliedstaaten und Bund enger gestalten.“
Bildquelle: Privat

Frau Professorin Kropp, nach 70 Jahren: Hat sich das Grundgesetz bewährt?

Das Grundgesetz war für Deutschland 1949 ein Glücksfall. Es verteilt die Zuständigkeiten auf verschiedene Institutionen, Gebietskörperschaften und politische Kräfte und hegt so die politische Macht Einzelner wirksam ein. Als Antwort auf den Totalitarismus des Nationalsozialismus und die Mängel der Weimarer Verfassung hat es die Kontrollrechte des Parlaments gestärkt und die Macht des Präsidenten begrenzt – um nur einige prägende Merkmale hervorzuheben. Jede noch so gute Verfassung muss aber von Zeit zu Zeit an neue gesellschaftliche Entwicklungen angepasst werden; Aufgaben wie die Schulpolitik oder innere Sicherheit müssen neu geregelt werden. Deshalb sind Reformen der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern auch ein Dauerbrenner.

Manche kritisieren den deutschen Föderalismus als umständliche Vielstaaterei. Braucht es die Bundesländer heute noch?

Davon bin ich überzeugt. Mit der Eingrenzung politischer Macht Einzelner geht einher, dass es viele Vetomöglichkeiten gibt, zum Beispiel, wenn ein Gesetz der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Das zwingt die politischen Kräfte dazu, einen Konsens zu finden. Aktuell polarisiert sich jedoch die politische Landschaft in Deutschland. Wenn sich das fortsetzt und man sich stets nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigt, ist nicht ausgeschlossen, dass es schließlich zu Entscheidungsblockaden kommt oder die demokratischen Verfahren an Legitimität verlieren.

Allerdings sind zentralisierte Systeme, deren Entscheidungen auf einfachen Mehrheiten basieren, keinesfalls leistungsfähiger oder demokratischer, wie man aktuell am Fall Großbritanniens sieht. Die britische Regierung ist in der Brexit-Krise kaum noch handlungsfähig, die Gesellschaft ist polarisiert und das Vertrauen in die Politik ist sehr gering. Föderale Systeme sind außerdem meist lernfähiger als Einheitsstaaten. Irrtümer, wie wir sie im Bereich der Schulpolitik immer wieder erleben, lassen sich in kleinerem Maßstab einfacher rückgängig machen. Systeme, die zentralisiert entscheiden und planen, sind hingegen unflexibel und ihre Entscheidungen verfehlen oft das eigentliche Problem.

Sind föderale politische Systeme in einer globalisierten Welt überhaupt noch zeitgemäß?

Wir beobachten derzeit zwei gegenläufige Entwicklungen. Auf der einen Seite gibt es einen weltweiten Trend zu Dezentralisierung und Föderalisierung. In Demokratien wächst das Bedürfnis der Bürger, öffentliche Aufgaben vor Ort mitzugestalten. Das ist auch eine Reaktion auf die Globalisierung, die vielen das Gefühl gibt, die politische Kontrolle verloren zu haben.

Auf der anderen Seite ist auch richtig, dass viele Aufgaben heute nicht mehr von kleinen Gebietskörperschaften allein bearbeitet werden können. Sei es der Kampf gegen den Terror und das organisierte Verbrechen, die Bewältigung der Folgen der Migration oder die Vereinheitlichung von IT-Netzen in der öffentlichen Verwaltung: All diese Probleme überschreiten räumliche Grenzen oder sind ohne internationale Kooperation nicht mehr zu bewältigen. Föderale Systeme können darauf reagieren, indem sie Kompetenzen auf die föderale Ebene verschieben oder die Kooperation zwischen Gliedstaaten und Bund enger gestalten. In Deutschland werden beide Strategien verfolgt.

Der deutsche Föderalismus ist mehrfach reformiert worden. Sind diese Reformen gelungen?

Zwischen 2004 und 2017 erfolgte eine Bundesstaatsreform in mehreren Stufen. Sie hat einerseits die Kompetenzen von Bund und Ländern klarer aufgeteilt. Die Länder haben andererseits mehr Aufgaben bekommen, ohne gleichzeitig neue Einnahmequellen zu erhalten. Mit der umstrittenen Schuldenbremse ist die finanzielle Lage für die Länder noch enger geworden. Das hat finanzschwache Länder dazu gezwungen, in ihrer Verwaltung Stellen abzubauen und die Infrastruktur zu vernachlässigen. Die Folgen dieser Austeritätspolitik erleben wir gerade in Berlin heute hautnah. In den vergangenen drei Jahren hat der Bund den Ländern wieder mehr finanzielle Unterstützung angeboten – im Gegenzug versucht er, Kompetenzen der Länder an sich zu ziehen. Darunter leidet die Machtbalance zwischen Bund und Ländern. Deshalb würde ich trotz einiger Verbesserungen die gesamte Bundesstaatsreform als nicht besonders erfolgreich beschreiben.

Kann Deutschland von den föderalen Systemen anderer Länder lernen?

Es gibt Modelle, zum Beispiel in der Schweiz und in Kanada, die Zuständigkeiten deutlicher trennen und dadurch vielfältigere Lösungen erlauben. Was in anderen Bundesstaaten gut funktioniert, lässt sich aber nicht einfach in unsere seit dem 19. Jahrhundert gewachsene bundesstaatliche Ordnung implantieren. In Deutschland erwarten die Bürger, dass die Lebensverhältnisse in allen Regionen gleichwertig sind. Das zeigt zum Beispiel die Debatte über die fortbestehenden Unterschiede zwischen Ost und West. Mehr Wettbewerb zwischen den Ländern, etwa in Form variierender Einkommenssteuersätze, würde daher auf wenig Akzeptanz stoßen.

Ursprünglich war das Grundgesetz als Provisorium gedacht. Gibt es heute noch Überlegungen, es durch eine neue Verfassung zu ersetzen?

Auch schrittweise Reformen können kumulativ eine große Wirkung erzeugen. An eine Totalrevision denken angesichts der Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes derweil wohl nur wenige Experten. Es gibt zwar politische Kräfte, die heute eine „Überwindung des Systems“ fordern. Diese Formulierung zeigt aber schon, worum es ihnen letztlich geht: Sie wollen die demokratische Ordnung einschränken.

Die Fragen stellte Jonas Huggins

Weitere Informationen

Öffentliche Podiumsdiskussion: „70 Jahre Grundgesetz – Auftakt für eine neue Bundesstaatsreform?“

Organisiert von der Freien Universität Berlin und dem Forum of Federations

Zeit und Ort

  • 5. November 2019, 17 Uhr, mit anschließendem Empfang
  • Auditorium Friedrichstraße, Friedrichstr. 180, 10117 Berlin
Anmeldung bis 31. Oktober unter d.broedemann@fu-berlin.de

Tagung „70 Jahre Grundgesetz – Der deutsche Bundesstaat im Spiegel internationaler Erfahrungen“

Zeit und Ort

  • 4./5. November 2019
  • Bundesrat (Leipziger Str. 3-4, 10117 Berlin)
Anmeldung bis 31. Oktober unter d.broedemann@fu-berlin.de

Weitere Informationen finden Sie hier.