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Der Kanon ist ein Chor

Eine Podiumsdiskussion des "internationalen literaturfestival berlin" in Kooperation mit dem Cluster „Temporal Communities“ ging der Vielstimmigkeit von Literatur in einer globalisierten Welt nach

10.10.2019

[A]s a child I wasn’t so much foreign as I was very small”, als Kind habe er sich nicht fremd gefühlt, heißt es in einem Gedicht des iranisch-amerikanischen Autors Kaveh Akbar. Bei jedem neuen Namen eines Dings habe ihn Freude ergriffen: „paleontologist tarpaper marshmallow“, „Paläontologe, Dachpappe, Marshmallow“. Wenn Akbar auf der 19. Ausgabe des internationalen literaturfestivals berlin dieses Gedicht liest, wird das Hineinwachsen eines Kindes in eine fremde Sprache nachvollziehbar: durch den Klang der Worte, den Rhythmus der Sprache und die Präsenz des Autors, der den Text am Mikrophon stehend wie einen Popsong performt.

Wie vielstimmig die Auseinandersetzung mit dem Literarischen sein kann, zeigte die Posiumsdiskussion im silent green Kulturquartier.

Wie vielstimmig die Auseinandersetzung mit dem Literarischen sein kann, zeigte die Posiumsdiskussion im silent green Kulturquartier.
Bildquelle: Ali Ghandtschi

Es sei die besondere Qualität von Literatur, solche Erfahrungen auf vielschichtige Weise vermitteln zu können, erklärte Dustin Breitenwischer. Literatur sei dabei viel mehr als nur gedruckter Text zwischen zwei Buchdeckeln. Breitenwischer, der am literaturwissenschaftlichen Exzellenzcluster „Temporal Communities: Doing Literature in a Global Perspective“ der Freien Universität zu amerikanischer und afroamerikanischer Literatur und Kulturgeschichte forscht, war zusammen mit der Tanzhistorikerin Lindsey Drury zu einer Podiumsdiskussion mit zwei Autoren und einer Autorin eingeladen: Literaturforschung trifft auf literarische Praxis der Gegenwart.

Neben den lyrischen Texten Akbars waren an diesem Abend auch Auszüge aus einer Erzählung der nigerianisch-britischen Autorin Chibundu Onuzo und aus einem bislang unveröffentlichten Jugendbuch des niederländisch-australisch-schottischen Autors Michael Faber zu hören. Keine explizit autobiografischen Texte – und dennoch wurde durch die Lesungen und die Diskussion deutlich, auf welch komplexe Weise die eigene Geschichte in literarischen Texten widerhallt.

Akbar kam als Dreijähriger mit seiner Familie aus dem Iran in die USA. Auch wenn er seine ersten Gedichte auf Persisch gehört hat, gesprochen hat er diese Sprache nie. Englisch ist die Sprache seiner Kunst, wie auch für Chibundu Onuzo, die als 14-Jährige nach England kam. Bereits drei Jahre später veröffentlichte sie ihren ersten Roman, der in Nigeria spielt, wie auch ihr 2017 erschienener zweiter Roman „Welcome to Lagos“. Derzeit beendet sie ihre Promotion in Geschichte am King’s College in London. Michael Faber lebte seit seinem siebten Lebensjahr in Australien. Als Erwachsener zog er nach Schottland – und ist nun als EU-Bürger mit den Unsicherheiten des drohenden Brexits konfrontiert.

"Narrativ für weiße Diplomatenkinder"

Schnell wurde klar, dass das Konzept „Third Culture Kids“, das dem Abend im Programm des internationalen literaturfestivals berlin seinen Namen gegeben hatte, nicht auf diese Lebenswege passt und von allen Anwesenden kritisch gesehen wurde. Der Begriff ist seit einem 1999 von David C. Pollock und Ruth E. van Reken verfassten Buch populär, wie der Moderator, Filmkritiker Toby Ashraf, erklärte.

Sie habe sich damit nie gemeint gefühlt, es sei ein Narrativ für weiße Diplomatenkinder, meinte Onuzo, die auch bezweifelte, dass eine neue dritte Kultur entstehe, wie es auf dem Klappentext heißt, den Ashraf zitierte. Vielmehr blieben verschiedene kulturelle Einflüsse bestehen und erhielten in unterschiedlichen Phasen des Lebens unterschiedliche Bedeutung.

So auch in der Erzählung „Sunita“, aus der die Autorin las: Darin geht es um „weaves“, Haarverlängerungen, die eingeflochten werden, um ihren Trägerinnen langes, glattes „europäisches“ Haar zu verschaffen. Dabei stamme das Echthaar, aus dem diese Extensions gemacht werden – und deren Anschaffung eine echte Investition von 300 Pfund sei – aus aller Welt, oftmals aus Indien oder aus Südamerika, erzählte die Autorin.

Veröffentlichte mit bereits 17 Jahren ihren ersten Roman: die nigerianisch-britische Autorin Chibundu Onuzo

Veröffentlichte mit bereits 17 Jahren ihren ersten Roman: die nigerianisch-britische Autorin Chibundu Onuzo
Bildquelle: Ali Ghandtschi

„Was ist überhaupt Zugehörigkeit?“

Ein Mädchen aus Somaliland, das in England aufwächst, ist die Hauptfigur in Michael Fabers bislang unveröffentlichtem Jugendbuch „D ­– A tale of two worlds“. Dhikilo kennt ihre Herkunftsfamilie nicht, nur ihre „englische Mum“ und ihren „englischen Dad“. Der Roman ist eine Art Auftragsarbeit zum Charles-Dickens-Jubiläum im nächsten Jahr, wenn sich der Todestag des britischen Autors zum 150. Mal jährt. „Was ist überhaupt Zugehörigkeit?“, fragte die Tanzhistorikerin Lindsey Drury von der Freien Universität Berlin nach Fabers Lesung. „Wie viele Menschen wissen überhaupt, wohin sie gehören?“

Faber hat in seinem umfangreichen Werk, das sowohl Science Fiction als auch historische Romane umfasst, viele Figuren geschaffen, die im Wortsinne nicht von dieser Welt sind. „Fremdheitsgefühle sind eine Grunderfahrung“, sagte er. Er selbst könne sich an seine frühe Kindheit in den Niederlanden nicht erinnern, sie sei für ihn ein schwarzes Loch.

Dustin Breitenwischer forscht am Exzellenzcluster „Temporal Communities: Doing Literature in a Global Perspective“ der Freien Universität zu amerikanischer und afroamerikanischer Literatur und Kulturgeschichte.

Dustin Breitenwischer forscht am Exzellenzcluster „Temporal Communities: Doing Literature in a Global Perspective“ der Freien Universität zu amerikanischer und afroamerikanischer Literatur und Kulturgeschichte.
Bildquelle: Ali Ghandtschi

Doch was ist überhaupt Kultur? Ist diese nicht selbst am Herkunftsort wie am jetzigen Wohnort ständigen Wandel unterworfen? Und so kreiste der zweite Teil des Abends um die Frage, ob der Literaturkanon nicht erweitert werden müsste. Als Historikerin hat sie auch mit der Geschichte schwarzer Briten beschäftigt. Diese reiche mindestens bis in die Tudor-Zeit, oftmals passe das aber nicht in offizielle Geschichtsbilder, sagte Chibundu Onuzo. Den einen Kanon gebe es nicht, sagte Kaveh Akbar, jeder baue sich seinen eigenen – in Abgrenzung zu dem, was andere zu ihrem Kanon rechneten.

Er glaube gar nicht an Kanones, erklärte hingegen Faber: „Die Diskussion über das, was zu einem Kanon gehört oder nicht, ist langweilig.“ Es sei eine der Aufgabe der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Clusters „Temporal Communities“, die Strukturen zu verstehen, die zu Kanonisierung führten und bestimmte Stimmen ausschlössen, sagte Lindsey Drury, die sich in ihrer tanzwissenschaftlichen Forschung mit Vorstellungen von „heidnischen Tänzen“ als Gegenbild zur westlichen Kultur auseinandersetzt.

Den einen Kanon gebe es nicht, sagte der iranisch-amerikanische Autor Kaveh Akbar, jeder baue sich seinen eigenen – in Abgrenzung zu dem, was andere zu ihrem Kanon rechneten.

Den einen Kanon gebe es nicht, sagte der iranisch-amerikanische Autor Kaveh Akbar, jeder baue sich seinen eigenen – in Abgrenzung zu dem, was andere zu ihrem Kanon rechneten.
Bildquelle: Ali Ghandtschi

Vielstimmige Auseinandersetzung mit dem Literarischen

„Ich sehe den Kanon mehr wie einen Chor – Stimmen hinzuzufügen, macht ihn reicher“, sagte Chibundu Onuzo, die selbst in einem Chor singt und am Vorabend das Publikum des Literaturfestivals am Ende einer Lesung zum gemeinschaftlichen Singen ermutigt hatte. Die eine Perspektive würde eine andere nicht zwangsläufig zum Schweigen bringen. Es sei eine Grundidee des Clusters „Temporal Communities“, den euro- bzw. nordamerikazentrierten Literaturansatz zu verlassen.

Es gehe um den Versuch, neu und anders zu fassen, was Literatur in einem bestimmten Moment sei, hatte Lindsey Drury das Forschungsprogramm des Exzellenzclusters beschrieben – des einzigen literaturwissenschaftlichen Clusters, der erfolgreich aus dem Exzellenzwettbewerb des Bundes und der Länder hervorgegangen ist. Dieser Abend im silent green Kulturquartier, einem ehemaligen Krematorium mitten im multikulturellen Berliner Stadtteil Wedding, zeigte, wie vielstimmig eine solche Auseinandersetzung mit dem Literarischen sein kann.