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„Unternehmensberater sind die Schamanen der modernen Gesellschaft“

Matthias Kipping, Historiker an der York University in Toronto, Kanada, forscht zur Geschichte der Unternehmensberatungen – gerade hat er einen einjährigen Aufenthalt als Humboldt-Forschungspreisträger an der Freien Universität beendet

15.07.2019

Mit der Industrialisierung kommt Tempo in die Produktion: Das erste Fließband der Welt lief im Jahr 1911 bei Ford.

Mit der Industrialisierung kommt Tempo in die Produktion: Das erste Fließband der Welt lief im Jahr 1911 bei Ford.
Bildquelle: Picture Alliance

Unternehmensberatungen sind allgegenwärtig. Firmen wie McKinsey, die Boston Consulting Group oder Bain & Company operieren heute global mit jeweils mehreren zehntausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Längst beraten sie nicht mehr nur Unternehmen, sondern auch Nichtregierungsorganisationen, Städte und Staaten – und sogar die katholische Kirche. Über hauseigene Denkfabriken, sogenannte Thinktanks, die den Anschein von akademischen Forschungseinrichtungen erwecken sollten, sagt Matthias Kipping, prägten Unternehmensberatun-gen mittlerweile auch Debatten über gesellschaftliche Themen, etwa künstliche Intelligenz oder die Zukunft der Städte. Für jedes Thema, so suggerierten die Berater, habe man eine passende Lösung: „Unternehmensberatungen haben es geschafft, eine fast sakrale Aura um sich zu erschaffen“, sagt der Professor für Unternehmensgeschichte an der York University, Toronto: „Sie gerieren sich als Hüter eines überlegenen Wissens wie früher Priester oder Schamanen. Und vielleicht haben sie heute sogar eine ähnliche Machtposition.“

Matthias Kipping ist Professor für Unternehmensgeschichte an der York University, Toronto.

Matthias Kipping ist Professor für Unternehmensgeschichte an der York University, Toronto.
Bildquelle: Privat

Matthias Kipping ist einer der renommiertesten Experten für die Geschichte von Unternehmensberatungen. Im vergangenen Jahr wurde er auf Vorschlag von Georg Schreyögg und Jörg Sydow, Professoren für Betriebswirtschaftslehre am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Freien Universität, mit dem Humboldt-Forschungspreis der Alexander von Humboldt-Stiftung (AvH) geehrt. Von Juli 2018 bis Juni 2019 war der von der AvH geförderte Wissenschaftler mit AvH-Förderung zu Gast in Dahlem. Während seines Aufenthalts beschäftigte er sich vor allem mit der Frage des politischen und gesellschaftlichen Einflusses von Unternehmensberatungen. „Beraterfirmen entscheiden heute nicht nur in betriebswirtschaftlichen, sondern zunehmend auch in sozialen Angelegenheiten mit“, sagt er. „Und wir sollten uns fragen, ob wir das als Gesellschaft wollen.“

Ende des 19. Jahrhunderts: mit der Stoppuhr in der Fabrik

Die Geschichte von Unternehmensberatungen, erzählt Kipping, beginnt gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Damals werden die ersten Unternehmen so groß und komplex, dass sie kaum noch zu überblicken sind. Die Berater verkaufen Organisationstechnologien – sie treten an, Warenverkehr und Arbeitsabläufe kalkulierbarer und effizienter, das heißt schneller und kostengünstiger zu machen. Dabei führen sie auch neue Kontrollmechanismen ein. „Die ersten Unter-nehmensberater saßen mit einer Stoppuhr in der Fabrik oder im Büro und haben gemessen, wie lange die Arbeiterinnen und Angestellten für die einzelnen Schritte brauchen“, sagt Kipping. „Heute ist das im Prinzip ähnlich, nur, dass alles über Computer läuft.“

In den 1980er Jahren expandieren Unternehmensberatungen

Die große Expansion der Berater beginnt in den 1980er Jahren, als in den USA unter Ronald Reagan und in Großbritannien unter Margaret Thatcher die Finanzmärkte liberalisiert werden. „Für die Unternehmen wurden seitdem weltweit massiv Regeln abgeschafft und neue Märkte geöffnet“, sagt Kipping. „Nachdem die gesetzlichen und geografischen Hürden weggefallen waren, suchte man Klarheit und Orientierung für neue Möglichkeiten der globalen Expansion bei den Beratern.“ Zeitgleich begann die Digitalisierung der Wirtschaft. „Es waren Beratungsunternehmen, die Softwaresysteme wie SAP auf der ganzen Welt etabliert haben“, sagt Kipping.

Die Gründe für den andauernden Erfolg von Unternehmensberatungen sähen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aber nicht nur in der steigenden Komplexität des globalen Kapitalismus. Es gebe auch psychologische Erklärungsmodelle. „Einige Autoren weisen auf die Einsamkeit von Topmanagern hin,“, sagt Kipping. „Ganz oben ist man alleine. Man darf vor den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern keine Unsicherheit eingestehen. Um über Probleme zu reden, holt man sich dann lieber jemanden von außen.“

Wenn die Berater erst einmal da seien, seien sie nur schwer wieder loszuwerden, sagt Kipping: „Natürlich können Unternehmen in vielen Fällen von Beratern profitieren. Aber die Beratungsfirmen haben auch ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen und Zwänge: Sie müssen wachsen!“ Also suchten die Berater regelrecht nach immer neuen Schwierigkeiten und Problemen, für die sie Lösungen anbieten könnten. „Ob das Problem oder der Berater zuerst da waren, das ist oftmals nicht so ganz klar“, sagt der Wissenschaftler.

Wachsender Einfluss von Thinktanks

Viele Beratungsfirmen hätten eigene Thinktanks geschaffen, um die Themen von morgen mitbestimmen zu können. Publikationen wie etwa des „McKinsey Global Institute“ würden unter Entscheiderinnen und Entscheidern in Wirtschaft und Politik vielfach gelesen. Sie gewännen an Deutungsmacht und hätten heute vielleicht schon mehr Einfluss als Veröffentlichungen universitärer Forschungseinrichtungen. „Man hört diesen Thinktanks zu“, sagt Kipping. „Die Themen, die dort gesetzt werden, werden oftmals von der Politik aufgenommen und bearbeitet.“

Dabei würden Unternehmensberatungen in immer mehr Gesellschaftsbereiche vorstoßen, um neue Lösungsansätze verkaufen zu können. „Während die Themenbreite zunimmt, bleiben die Antworten der Berater meist die gleichen“, sagt Kipping. Er regt an, gesellschaftlich stärker darüber nachzudenken, ob man Bereiche wie die öffentliche Gesundheitsvorsorge künftig mit derselben Logik angehen wolle wie die Optimierung von Lieferketten.

Es zeige sich aber auch, dass Thinktanks von Unternehmensberatungen positiven gesellschaftlichen Einfluss haben können: „In Sachen Geschlechtergerechtigkeit oder Nachhaltigkeit nehmen diese Institute durchaus eine Vorreiterrolle ein“, sagt der Unternehmenshistoriker. „Sie könnten ihren Einfluss künftig stärker für gute Zwecke einsetzen – wenn dort wirklich an die Gesellschaft gedacht wird – und nicht nur an die Brieftasche der Manager und Anteilseigner.“