Für freie Forschung und Lehre
Heute vor 70 Jahren beschloss der Parlamentarische Rat in Bonn das Grundgesetz: 146 Artikel bildeten die Basis für die demokratische Entwicklung der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg – eine Besonderheit sind die 19 Grundrechte
23.05.2019
Am 1. September 1948 kamen in einem Bonner Museum 70 Menschen zusammen, um das Fundament für eine neue deutsche Demokratie zu legen. Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates waren von den elf Länderparlamenten in den drei westlichen Besatzungszonen gewählt worden, um das Grundgesetz zu erarbeiten.
Die beiden Volksparteien CDU/CSU und SPD stellten mit je 27 Abgeordneten die beiden größten Fraktionen. Außerdem waren die Liberalen, die Deutsche Zentrumspartei, die Kommunistische Partei und die Deutsche Partei vertreten. Unter den „Vätern des Grundgesetzes“ waren auch vier „Mütter“. Am 8. Mai 1949 – auf den Tag genau vier Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation Nazi-Deutschlands – verabschiedeten sie gemeinsam die Verfassung, die bis heute die demokratische Grundordnung der Bundesrepublik bildet.
„Das Grundgesetz ist eine Erfolgsgeschichte“, sagt Helmut Aust, Professor an der Freien Universität Berlin für Öffentliches Recht und die Internationalisierung der Rechtsordnung. „Es gilt heute international als Musterbeispiel für eine gelungene Verfassungsordnung.“ Nach dem Scheitern der Weimarer Republik und den Verbrechen des Nationalsozialismus galt es, die Bundesrepublik als eine freiheitliche Demokratie zu gestalten.
Die Ordnung sollte stabil und wehrhaft gegenüber ihren Feinden sein
Doch ob das gelingen konnte, erschien im Jahr 1949 fraglich. Antidemokratisches Denken war in der deutschen Gesellschaft tief verankert gewesen. Jahrzehntelang hatte es unter den Eliten zum guten Ton gehört, den Parlamentarismus der westlichen Nachbarn zu verachten. Große Teile der Bevölkerung hatten den Nationalsozialismus bereitwillig unterstützt.
„Für den Parlamentarischen Rat war vollkommen unklar, wie sich die deutsche Bevölkerung innerhalb einer neuen demokratischen Ordnung verhalten würde“, sagt Sabine Kropp, Professorin am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität und Expertin für das politische System der Bundesrepublik. Der Parlamentarische Rat habe eine Ordnung schaffen wollen, die auf Macht- und Gewaltenhemmung ausgerichtet sein sollte, sagt die Politikwissenschaftlerin. „Gleichzeitig sollte diese Ordnung stabil und krisenresistent sein und sich gegenüber ihren Feinden als wehrhaft erweisen.“
Im Gegensatz zur Weimarer Verfassung, in der es mit Reichstag und Reichspräsident zwei konkurrierende Organe gab, die beide durch eine direkte Wahl vom Volk legitimiert waren, stärkte das Grundgesetz das Parlament deutlich. Der Präsident, der in der Weimarer Verfassung noch weitreichende Befugnisse hatte und mit Notverordnungen auch gegen das Parlament regieren konnte, erhielt eine weitestgehend repräsentative Funktion.
„Man verabschiedete sich von der Vorstellung eines einzelnen Staatsoberhaupts, das den vermeintlich einheitlichen Volkswillen repräsentiert“, sagt Sabine Kropp. „Das Grundgesetz“, erklärt Helmut Aust, „zentralisiert die politische Macht, indem es ein parlamentarisches Regierungssystem vorsah, mit einer vom Bundestag gewählten und ihr gegenüber verantwortlichen Bundesregierung.“
Artikel 5 Absatz 3: Verankerung der Freiheit der Wissenschaft, Forschung und Lehre
Eine Besonderheit des Grundgesetzes ist der Katalog der 19 Grundrechte. Dort, in Artikel 5 Absatz 3, ist auch die Freiheit der Wissenschaft, Forschung und Lehre verankert. „Dabei handelt es sich um ein sogenanntes Abwehrrecht“, sagt Sabine Kropp. „Es soll davor schützen, dass das wissenschaftliche Erkenntnisstreben durch politisches oder staatliches Handeln eingeschränkt wird.“ Für die Universitäten bedeutet das, dass sie sich selbst verwalten können und müssen.
Ferner gilt die Wissenschaftsfreiheit als individuelles Grundrecht für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. „Es garantiert jedem Forscher das Recht, seine eigene wissenschaftliche Agenda zu setzen“, sagt Jurist Aust. Das bedeutet: Jeder Wissenschaftlerin und jedem Wissenschaftler steht es frei, selbst über die Forschungsthemen zu entscheiden, über die eingesetzten Methoden und über die eigene Haltung. „Die Wissenschaftsfreiheit stellt sicher, dass jeder frei forschen, publizieren und lehren kann, ohne negative politische Konsequenzen fürchten zu müssen.“
Für den Parlamentarischen Rat sei damals klar gewesen, dass eine freie Wissenschaft Grundlage für eine demokratische Gesellschaft sei, sagt Sabine Kropp. Man habe diese Regelung weitestgehend aus der Weimarer Verfassung übernommen – mit einem entscheidenden Zusatz: Im letzten Satz des Absatzes heißt es im Grundgesetz: „Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.“
„Der Satz resultiert aus Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus“, sagt Politikwissenschaftlerin Kropp. „Er richtet sich etwa gegen Mediziner, die Euthanasie propagierten oder Staatsrechtslehrer, die das Unrechtsregime legitimiert haben.“ Die Freiheit der Wissenschaft ende dort, wo andere Grundrechte verletzt würden. Bei komplexen ethischen Fragen, etwa in der Genforschung, gelte es abzuwägen.
Blick auf andere Staaten
Bis heute ist die Wissenschaftsfreiheit wichtiges Instrument einer wehrhaften Demokratie. „Welch ein kostbares Gut das Grundrecht ist, zeigt ein Blick auf andere Staaten“, sagt Helmut Aust. In Ungarn etwa seien kritische und unliebsame Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler regelmäßig staatlichen Repressalien ausgesetzt; in der Türkei verlören viele sogar ihre Arbeit oder landeten unschuldig im Gefängnis.
Doch auch in Deutschland müsse zunehmend illiberalen und antidemokratischen Kräften begegnet werden. Von Seiten rechtspopulistischer Parteien wie der Alternative für Deutschland (AfD) gebe es verstärkt Versuche, politischen Einfluss auf die Wissenschaft zu nehmen. „Es gibt von dieser Seite oftmals den Vorwurf, dass Universitäten von einem ‚linken Zeitgeist‘ durchsetzt seien", sagt Aust. „Da gibt es dann die Vorstellung, dass die Politik eingreifen solle, um einen Ausgleich zu schaffen.“ Wissenschaftsfreiheit aber bedeute, einen freien „Marktplatz der Ideen“ zu sichern. „Und dort setzen sich nicht die Ideen durch, die von der Politik bestimmt werden, sondern die besten.“