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Europa hat die Wahl

Vom 23. bis 26. Mai dürfen knapp 427 Millionen Menschen in 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union abstimmen – ein Interview mit dem Europarechtler Christian Calliess über den Zustand des Staatenverbundes

21.05.2019

Flagge zeigen – die in dieser Woche stattfindende Wahl zum Europäischen Parlament hat nicht nur angesichts des steigenden Populismus' große Bedeutung. Gewählt werden 751 Abgeordnete.

Flagge zeigen – die in dieser Woche stattfindende Wahl zum Europäischen Parlament hat nicht nur angesichts des steigenden Populismus' große Bedeutung. Gewählt werden 751 Abgeordnete.
Bildquelle: pixel 2013/Pixabay.com

Der Brexit ist vorerst bis voraussichtlich Ende Oktober aufgeschoben, die Briten werden an der Europawahl teilnehmen. Doch nicht nur die im Juni 2016 in einem Referendum getroffene Entscheidung Großbritanniens, aus der EU auszutreten, hat die politische Agenda auf europäischer Ebene zuletzt bestimmt: Finanzkrise, ungeregelte Zuwanderung, Sicherheitskrise, Erstarken populistischer Parteien, Erosion gemeinsamer Werte – die Europäische Union befindet sich seit mehreren Jahren im Krisenmodus. Wenige Tage vor der Wahl des EU-Parlaments, der eine wichtige Bedeutung zugeschrieben wird, sprach campus.leben mit Christian Calliess, Professor für Öffentliches Recht und Europarecht an der Freien Universität. Der Jurist war von 2015 bis 2018 beurlaubt, um als Rechtsberater des Strategieteams des Kommissionspräsidenten in Brüssel zu arbeiten.

Herr Professor Calliess, in welchem Zustand befindet sich die Europäische Union?

Die Europäische Union befindet sich nun schon seit einigen Jahren in einer Polykrise - so nannte es Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker einmal: Erstens ist die Krise im Euroraum noch nicht gänzlich überwunden. Zweitens erleben wir eine Krise im Schengenraum, die zum einen eine Migrationskrise ist, zum anderen eine durch die Terroranschläge von Paris, Brüssel und Berlin offenbar gewordene Sicherheitskrise. Schließlich beobachten wir eine zunehmende Erosion des gemeinsamen Wertefundaments. Einige Mitgliedsstaaten kümmern sich hierbei nicht einmal mehr um die Einhaltung selbst elementarer Grundregeln der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.

Christian Calliess ist Professor für Öffentliches Recht und Europarecht an der Freien Universität. Von  2015 bis 2018 war er beurlaubt, um als Rechtsberater des Strategieteams des Kommissionspräsidenten in Brüssel zu arbeiten.

Christian Calliess ist Professor für Öffentliches Recht und Europarecht an der Freien Universität. Von 2015 bis 2018 war er beurlaubt, um als Rechtsberater des Strategieteams des Kommissionspräsidenten in Brüssel zu arbeiten.
Bildquelle: Sachverständigenrat für Umweltfragen

In den vergangenen Jahren hat sich gezeigt, dass die mit dem Vertrag von Maastricht im Jahre 1992 angestoßenen Integrationsschritte zu Schönwetterräumen geführt haben, die auf stürmische Zeiten nicht hinreichend vorbereitet waren. Man hat einfach darauf vertraut, dass alles nach Plan läuft.

Und nun, da es anders kommt, ist man in Brüssel nicht handlungsfähig?

So sieht es bei oberflächlicher Betrachtung vielleicht aus. Die Brüsseler Institutionen allein haben aber nicht die Kompetenzen, um die Krisen effektiv zu bewältigen. Insoweit besteht oftmals eine Kluft zwischen Erwartungen der Bürger und – wenn überhaupt – schwachen Handlungsmöglichkeiten auf der europäischen Ebene, Reformen umzusetzen und manchmal sogar beschlossene und geltende Regeln durchzusetzen. So werden immer wieder die hohen Erwartungen enttäuscht, die die europäische Idee weckt. Wenn Mitgliedstaaten nicht in der Lage sind oder aus politischen Gründen nicht willens, Reformen zu beschließen oder das Unionsrecht einzuhalten, dann fehlt den europäischen Institutionen oftmals die Handhabe.

Entscheidend bleiben die Mitgliedsstaaten, und die haben im Europäischen Rat, auf Ebene der Staats- und Regierungschefs, sowie im Ministerrat über viele der grundsätzlichen Fragen oftmals keinen Konsens finden können. Vor diesem Hintergrund hat die Europäische Kommission mit dem sogenannten Weißbuch zur Zukunft Europas im März 2017 einen Debatte anstoßen wollen, indem sie fünf mögliche Entwicklungspfade für die Europäische Union im Jahre 2025 in Form von Szenarien skizziert hat. Im September 2017 legte die Kommission sodann im Rahmen eines sechsten Szenarios konkrete Reformvorschläge auf den Tisch.

Welche Schritte sind aus Ihrer Sicht nötig?

Die Europäische Union braucht Glaubwürdigkeit durch Funktionsfähigkeit. Dafür muss sie eine Arbeitsmethode des „Weniger, aber effizienter" entwickeln und gemäß dem Subsidiaritätsprinzip in großen Dingen groß und in kleinen Dingen klein sein. Man spricht immer wieder von einer „Eurokratie“ – dabei arbeiten in allen europäischen Institutionen zusammen nur rund 50 000 Beamte, die für 510 Millionen Unionsbürger zuständig sind. Man muss sich also genau überlegen, wo man Prioritäten setzt. Zuständigkeiten in weniger wichtigen Politikfeldern müssen reduziert oder ganz aufgegeben werden.

Im Gegenzug brauchen die europäischen Institutionen mehr Kompetenzen gerade da, wo es um die großen Themen geht, die die Staaten nicht alleine lösen können. Priorität müssen meiner Meinung nach die Gestaltung des digitalen Binnenmarktes samt Klima-, Energie- und Handelspolitik haben. Hinzu kommen die Sicherung der Stabilität des Euro durch eine enger mit der Geldpolitik verzahnte Wirtschafts- und Fiskalpolitik, ein nachhaltiges Management der europäischen Außengrenzen sowie eine mit den nationalen Behörden eng abgestimmte Politik der inneren Sicherheit. Wichtig ist auch die Entwicklung einer stärker integrierten europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Was, wenn nicht alle Mitgliedsstaaten hier an einem Strang ziehen?

Auch das wird in dem Weißbuch angesprochen. Wenn aus der Heterogenität der Mitgliedstaaten so unterschiedliche Interessen resultieren, dass kein Konsens über notwendige Reformschritte mehr zu erreichen ist, dann müssen wir die Architektur der Europäischen Union flexibler und dynamischer gestalten. Nur so lassen sich Stagnation und Desintegration verhindern. Einzelne Staaten könnten sich in „Koalitionen der Willigen“ zusammenschließen. Das wären Pioniergruppen, die Initiative ergreifen und mit gutem Beispiel vorangehen. So könnten sie zeigen, dass vertiefte Integration attraktiv ist und nach und nach weitere Mitgliedsstaaten motivieren, sich anzuschließen. Wenn ein Mitgliedstaat allerdings die ambitionierten Ziele der Pioniergruppe nicht mehr teilt, muss er diese wieder verlassen; er wird dann wieder zum Normal-Mitglied der Union.

Gleichzeitig muss die Union die Einhaltung elementarer Grundregeln überwachen können. Wie sollte man mit Staaten verfahren, deren Regierungen rechtsstaatliche Prinzipien zunehmend offen in Frage stellen?

Die Europäische Union kann im sogenannten Artikel-7-Verfahren Mitgliedstaaten sanktionieren, die die freiheitlichen Werte der Union verletzen; mögliche Schritte reichen von finanziellen Sanktionen bis hin zum Stimmrechtsentzug. Dafür bedarf es aber eines politischen Konsenses. Das heißt, ein Staat, der beispielsweise von Sanktionen bedroht ist, braucht nur einen einzigen Verbündeten – schon ist das Verfahren blockiert. Deswegen wäre parallel auch die Möglichkeit für ein rechtliches Verfahren am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg ins Auge zu fassen. Die Einhaltung von Verfassungsprinzipien wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit kann man – zumindest in ihrem Kernbereich – gerichtlich prüfen, und diese Möglichkeit sollte genutzt werden.

Nach langem Hin-und-Her hat die Europäische Kommission den Briten für den geplanten EU-Austritt einen Fristaufschub bis maximal 31. Oktober gewährt. War das die richtige Entscheidung?

Was wäre die Alternative gewesen? Es wäre sonst zu einem Austritt ohne Vertrag gekommen. Die Folgen eines sogenannten harten Brexits wären möglicherweise mit derartigen Schwierigkeiten für beide Seiten verbunden, dass dieser Schritt sinnvoll erscheint.

Welche Szenarien sind jetzt denkbar?

Es bleibt nach wie vor die Frage, wie man eine Schließung der Grenze zwischen dem britischen Nordirland und der Republik Irland verhindern will. Da sehe ich eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Naheliegend wäre, die Briten ratifizierten das bestehende Austrittsabkommen, das einen zeitweiligen Verbleib Nordirlands und im Zuge dessen auch des Vereinigten Königreichs in der europäischen Zollunion vorsieht, den sogenannten Backstop. Ich denke, das Austrittsabkommen ist insoweit einen für beide Seiten faire Regelung. Eine weitere Möglichkeit wäre – und die halte ich für die bessere –, dass die Briten sich neu besinnen und auch für sich einen dauerhaften Verbleib in der Zollunion akzeptieren. Denn das ist die einzige Option für die Lösung der Nordirland-Frage.

Warum tun sich die Briten so schwer mit dem Verbleib in der Zollunion?

Auch das ist weitgehend irrational. Die Briten erhoffen sich, dass sie alleine bessere Handelsverträge mit anderen Staaten schließen können, als sie es im Rahmen einer Mitgliedschaft in der Zollunion könnten. Aber das hat sich schon jetzt als Trugschluss herausgestellt. Nicht einmal Commonwealth-Mitglieder wie Kanada sind bereit, den Briten bessere Konditionen als der Europäischen Union im CETA-Abkommen anzubieten. Im Gegenteil: Sie sehen, dass Großbritannien mit dem Rücken zur Wand steht und allein auf keine dem Binnenmarkt der Europäischen Union vergleichbare Verhandlungsstärke bauen kann. Entsprechend wenig sind Drittstaaten bereit, den Briten entgegenzukommen. Die Europäische Union, als großer Wirtschaftsblock, ist da in einer viel besseren Verhandlungsposition als ein Einzelstaat. Ich hoffe sehr, dass Großbritannien diesbezüglich bald zur Vernunft kommt.

Was könnte die Europäische Union noch tun, um eine Einigung zu beschleunigen?

Da gibt es einfach nichts mehr. Der Vorschlag, dass Nordirland mit dem Vereinigten Königreich in der Zollunion verbleiben kann, ist schon ein sehr weitreichendes Kompromissangebot seitens der EU. Vor zwei Jahren war man in Brüssel in dieser Frage noch viel härter. Da hieß es: „Der Binnenmarkt ist unteilbar, wir wollen kein Rosinenpicken.“ Das jetzige Angebot sieht also einen Verbleib nur in der Zollunion vor – ohne die anderen Regeln und Freiheiten des Binnenmarktes, etwa von Arbeitnehmern. Die Briten sehen offenbar gar nicht, wie weit man ihnen da schon entgegengekommen ist.

Wäre auch ein Rücktritt vom Austritt denkbar?

Ja. Der Europäische Gerichtshof hat schon im Dezember 2018 entschieden, dass ein Mitgliedsstaat auch einseitig die Austrittserklärung nach Artikel 50 zurückziehen kann. Es bräuchte dazu also nicht einmal die Zustimmung der anderen EU-Staaten. Manche wünschen sich nun, dass es zu einem solchen Rücktritt vom Austritt kommt.

Aber ich bin skeptisch, ob das wünschenswert wäre. Denn die Mitgliedschaft in der Europäischen Union beruht auf Freiwilligkeit und Überzeugung. Das Vereinigte Königreich ist aber so gespalten, dass es daran fehlt. Es besteht die Gefahr, dass es seinen inneren Konflikt in eine ohnehin schon erschütterte Europäische Union trägt und diese weiter schwächt. Es wäre auch nicht ausgeschlossen, dass die Briten dann bald erneut ihren Austritt erklären. Dadurch könnten sich weitere Mitgliedsstaaten künftig motiviert fühlen, den Austritt nach Belieben als Druckmittel einzusetzen und wieder zurückzuziehen. Man muss allerdings auch darauf hinweisen, dass der Europäische Gerichtshof in einer Entscheidung erklärt hat, dass ein solches Hin-und-Her unzulässig wäre.

Die Fragen stellte Dennis Yücel