„Unbändiges Interesse für Forschungsthemen aus angrenzenden Wissenschaften und ein großes Ohr für den wissenschaftlichen Nachwuchs“
Ein Symposium erinnerte kürzlich an den renommierten Molekularbiologen Werner Reutter / campus.leben im Gespräch mit seinem Mentee Christian Hackenberger
16.08.2017
Vor etwas mehr als einem Jahr, Ende Mai 2016, starb Werner Reutter. Der Biochemiker und Mediziner, der von 1979 an am Institut für Molekularbiologie und Biochemie des Fachbereichs Humanmedizin der Freien Universität, seit 2003 der Charité – Universitätsmedizin Berlin, und nach seiner Emeritierung am Institut für Laboratoriumsmedizin, Klinische Chemie und Pathobiochemie der Charité wirkte, hat das Fach Zuckerbiologie stark geprägt. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehörte die Glykomik, ein Teilbereich der Glykobiologie, insbesondere Forschung zu Sialinsäuren. Zur Erinnerung an den renommierten Wissenschaftler, der durch seine Persönlichkeit und sein Wirken viele Kolleginnen und Kollegen geprägt hat, die seine Arbeiten weiterführen, fand kürzlich ein Symposium statt. Christian Hackenberger, Herausgeber eines Sonderheftes der Fachzeitschrift ChemBioChem zu Ehren Herrn Reutters und von 2011 bis 2012 Professor für Bioorganische Chemie an der Freien Universität, hat Werner Reutter 2005 an der Freien Universität kennengelernt. Heute ist Hackenberger Leibniz-Humboldt-Professor für Chemische Biologie und Bereichsleiter am Leibniz-Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie. Im Gespräch mit campus.leben erinnert er an Werner Reutter.
Herr Professor Hackenberger, in der Zeitschrift ChemBioChem wird Werner Reutter als ein Pionier der molekularen Glykobiologie bezeichnet. Was sind seine größten wissenschaftlichen Verdienste auf diesem Gebiet und darüber hinaus?
Das ist ganz einfach: Ohne das Lebenswerk von Werner Reutter wäre die Glykobiologie – die Wissenschaft, die sich mit der Funktion von Zuckern in der Natur auseinandersetzt – eine andere geworden. Durch seine Entdeckungen hat Werner Reutter wegweisende Beiträge für die Herstellung, die sogenannte Biosynthese, und den Abbau von wichtigen Zuckermolekülen im Körper geleistet. Hierbei griff er gezielt auf biochemische aber auch chemische Arbeitsmethoden zurück, unter anderem führte er pathologische Beobachtungen auf molekulare Veränderungen in Zuckerstrukturen und Glykoproteinen zurück, so beispielsweise die Rolle des Zuckers L-Fucose in bösartigen Tumoren. Zusätzlich führte er unnatürliche Zuckerstrukturen als Hemmer von Enzymen ein, die am Stoffwechselprozess beteiligt sind.
Den meisten Forschern ist Werner Reutter aber sicherlich für seine wegweisenden Beiträge zur Aufklärung der Sialinsäure-Biosynthese bekannt. Sialinsäuren sind endständige Zucker auf der Zelloberfläche. Sie sind essenziell für biologische Erkennungsprozesse und spielen eine wichtige Rolle beispielsweise bei viralen Infektionen. Hierbei gelang es Werner Reutter, auch unnatürliche Zuckerbausteine in lebende Zellen einzuschleusen. Diese Beobachtung war gewissermaßen die Geburtsstunde des metabolischen Oligosaccharid-Engineerings, ein Verfahren, bei dem man unnatürliche Zuckerbausteine in die natürliche Biosynthese lebender Organismen einschleust – und hat die Tür zu einem weiteren erst Jahre später entwickelten Forschungsgebiet der Chemischen Biologie aufgestoßen: nämlich zur bioorthogonalen Chemie. Man kann also sagen, dass Werner Reutter nicht nur prägend für sein primäres Forschungsgebiet der Glykobiologie war, sondern auch Geburtshelfer für neue Forschungsfelder.
Was hat Werner Reutter als Mensch und Forscher ausgezeichnet?
Wenn man es auf wenige Worte runterbrechen müsste: wissenschaftliche Brillanz gepaart mit Bescheidenheit und Freundlichkeit! Ich glaube, ich spreche für alle Wegbegleiter von Werner Reutter, wenn ich sage, dass er ein Paradebeispiel eines wissenschaftlichen Gentlemans war, eines Professors wie er im Buche steht, mit unbändigem Interesse für Forschungsthemen aus angrenzenden Wissenschaften und einem großen Ohr für den wissenschaftlichen Nachwuchs.
Werner Reutter hat zwischen den medizinischen und molekularen Wissenschaften Brücken gebaut, was ihm durch sein Studium der Medizin und der Physik gewissermaßen in die Wiege gelegt wurde. Ich kann mich nur zu gut an unser erstes Treffen an der Freien Universität Berlin erinnern, als ich im Jahr 2005, als frischgebackener Postdoktorand und aus den USA kommend, dort meine eigenständige Karriere begann: Herr Reutter kam zu mir, hatte großes Interesse und viel Zeit für einige meiner sicherlich noch unausgereiften Ideen. So begann mit ihm und seinen Mitarbeitern eine langjährige vertrauensvolle Zusammenarbeit. Besonders stolz bin ich auf eine Arbeit über neue zellulär-aktive Inhibitoren der ManNAc-Kinase, die wir wenige Wochen vor seinem Tod in Chemical Science publizieren konnten. Diese Arbeit beschreibt die ersten zellulären Hemmstoffe für die Sialinsäure-Biosynthese und geht auf eine ursprüngliche Idee von Werner Reutter zurück.
In welcher Form wird sein wissenschaftliches Erbe heute fortgeführt?
Im Fall von Werner Reutter mache ich mir um sein wissenschaftliches Testament keine Sorgen. Aus der Reutter-Schule sind zahlreiche erfolgreiche Wissenschaftler hervorgegangen, die seine Themen weiterführen und dabei neue brandaktuelle Fragestellungen aufwerfen. Ebenso sind viele Forscher weltweit, mit besonderem Schwerpunkt in den USA aber auch in Europa und in China, mit dem bioorthogonalen Engineering von Zelloberflächen beschäftigt, das aus dem bereits erwähnten metabolischen Oligosaccharid-Engineering entstanden ist, angeführt sicherlich von Carolyn Bertozzi an der Stanford University. Dieses Vermächtnis ist besonders an der bereits erwähnten Sonderausgabe der Zeitschrift ChemBioChem abzulesen, besonders aber auch an einem Symposium zu erkennen, das in Gedenken an Werner Reutter vor Kurzem an der Charité Berlin stattfand: Mehrere Wegbegleiter und Akademiker aus seinem direkten Umfeld haben dort über aktuelle Ergebnisse berichtet, die wieder einmal zeigten, dass Werner Reutter seiner Zeit weit voraus war und dass seine Arbeiten immer noch die Denkweise der biologischen Wissenschaft prägen.
Die Fragen stellte Christine Boldt