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Entdecker der verlorenen Texte

Auf einer Konferenz an der Freien Universität diskutierten Wissenschaftler aus den USA, Europa, Afrika, Indien und dem Nahen Osten über die lange unbeachtete Geschichte arabischsprachiger Textpraxis

31.07.2017

Vielfach kommentiert: Das Original dieses arabischen Manuskripts des Philologen az-Zamaḫšarī stammt aus dem 12. Jahrhundert, die abgebildete Kopie mit Kommentaren aus dem Jahr 1546.

Vielfach kommentiert: Das Original dieses arabischen Manuskripts des Philologen az-Zamaḫšarī stammt aus dem 12. Jahrhundert, die abgebildete Kopie mit Kommentaren aus dem Jahr 1546.
Bildquelle: SPKB Fotostelle

Arabisch ist eine globale Sprache: Von Westafrika über den Nahen Osten bis hin zu Teilen Indiens wird Arabisch geschrieben und gesprochen – und das seit Jahrhunderten. Doch die Tradition des Bewahrens und Interpretierens arabischer Texte wurde mit dem Beginn des Kolonialismus im 19. Jahrhundert jäh unterbrochen. Fortan bestimmten westliche Philologen den Umgang mit arabischen Texten. Islam Dayeh, Juniorprofessor am Institut für Semitistik und Arabistik der Freien Universität, will die arabische Textpraxis neu entdecken und aus unterschiedlichsten Perspektiven beleuchten. Dazu veranstaltete er kürzlich eine internationale Konferenz unter der Leitfrage „Wie sah frühe arabische Philologie aus?“.

Zeitschrift für kritische Philologie

Islam Dayeh leitet die Forschungsgruppe „Arabic Philology and Textual Practices in the Early Modern Period“ und das gemeinsam mit dem Forum Transregionale Studien ins Leben gerufene Forschungsprogramm „Zukunftsphilologie“ an der Freien Universität. Beide Forschungsvorhaben haben zum Ziel, über den klassisch-griechisch-lateinischen Kanon der Textforschung hinauszugehen und Textkulturen aus aller Welt zu erforschen.

Auf der Konferenz präsentierte Islam Dayeh die erstmals 2016 erschienene Zeitschrift „Philological Encounters“, die sich sowohl der Entstehung und Weitergabe von Texten widmet, als auch deren philosophischem und theoretischem Gehalt. Jährlich erscheinen zwei Ausgaben der Zeitschrift, die als Print- und Onlineangebot gelesen werden kann.

Die Zeitschrift „Philological Encounters“ erscheint seit 2016 und zweimal im Jahr.

Die Zeitschrift „Philological Encounters“ erscheint seit 2016 und zweimal im Jahr.
Bildquelle: Peter Schraeder

„Wo immer es Texte gab, gab es auch eine Methode, deren Sinn freizulegen“, sagt Dayeh. Arabisch sei für die islamische Welt das gewesen, was Latein für das christliche Europa war. „Latein und Arabisch haben sich stark beeinflusst.“ Nachzulesen ist das in der zweiten Ausgabe von „Philological Encounters“, die sich mit dem Einfluss arabischer Texte im Mittelmeerraum beschäftigt. Doch nicht nur hier kam es zum Kontakt zwischen dem Arabischen und anderen Sprachen: So wurden die ersten grammatischen Zusammenfassungen der hebräischen, persischen oder türkischen Sprache auf Arabisch verfasst.

Eine besondere Art des Lesens

Die Konferenzteilnehmerinnen und -teilnehmer aus den USA, Europa, Afrika, Indien und dem Nahen Osten beschäftigten sich aber nicht nur mit unterschiedlichen arabischsprachigen Wissenstraditionen, sondern auch mit sehr verschiedenen Textgattungen. In der arabischen Manuskriptkultur vorkolonialer Zeiten war es üblich, Kommentare und Glossen um den Originaltext herum zu schreiben. Dafür wurde das Original kopiert und am Rand kommentiert – ähnlich wie bei heutigen Textverarbeitungsprogrammen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden Original und Kommentare weiterkommentiert, häufig auf ironische Weise.

Juniorprofessor Dr. Islam Dayeh hat die internationale Konferenz „What was Philology in Arabic? Arabic-Islamic Textual Practices in the Early Modern World" organisiert.

Juniorprofessor Dr. Islam Dayeh hat die internationale Konferenz „What was Philology in Arabic? Arabic-Islamic Textual Practices in the Early Modern World" organisiert.
Bildquelle: Peter Schraeder

„Manchmal gibt es fünf oder sechs Texte auf einem Stück Papier. Man las, was andere gelesen hatten“, sagt Dayeh. „Die arabischen Gelehrten hatten ein anderes Verständnis von Autorschaft und Originalität als die europäischen. Sie fügten ihre Stimme zu früheren hinzu.“ Diese Nebenstimmen wurden von den meisten europäischen Wissenschaftlern des 19. und 20. Jahrhunderts aber nicht wahrgenommen: Sie interessierten sich vor allem für die Originaltexte, denn diese bezogen sich auf die Bibel oder waren Übersetzungen griechischer und lateinischer Texte der Antike. Die arabischen Kommentare ließen sie links liegen.

Der Arabistik ein neues Gesicht geben

Islam Dayeh will seine Forschung daher auch als Beitrag zur Geschichte der Geisteswissenschaften verstehen. Er möchte der Arabistik „ein neues Gesicht geben“, wie er sagt.

„Die Konferenz hat Menschen zusammengebracht, die vorher noch nicht so stark über die Zusammenführung von globalen Perspektiven nachgedacht haben“, resümiert der Philologe. Für ihn ist die Richtung klar: „Wir wollen wiederentdecken, was wir verloren haben.“