Große Schritte für die Menschheit
Forscherin der Freien Universität untersucht Raumfahrt mit soziologischen Methoden
05.04.2017
Es ist kurz nach zwei Uhr nachts im kasachischen Baikonur und so klirrend kalt, dass Paola Castaño ihren Mantel enger zieht. Seit Stunden steht sie hier, bei minus 18 Grad, nur einen Kilometer von der Startplattform der Sojus-Rakete entfernt. Sie wartet auf den Augenblick, in dem sich zeigen wird, ob die Berechnungen stimmen, ob das Material hält, ob alles gut geht. In der Rakete sitzen die drei Astronauten Oleg Novitskiy, Peggy Whitson und Thomas Pesquet, festgezurrt auf engstem Raum. Dann ein Licht, als ginge plötzlich die Sonne auf. Der Boden bebt unter Castaños Füßen und innerhalb weniger Augenblicke wird die Raumkapsel zu einem Stern, der im Nachthimmel verschwindet.
Dass Paola Castaño am 18. November 2016 den Start der bemannten Mission Sojus MS-03 beobachten konnte, „war eine Erfahrung, die man höchstwahrscheinlich nur ein einziges Mal im Leben macht und ein echter Glücksfall“, sagt die Wissenschaftlerin. Die gebürtige Kolumbianerin ist nämlich keine Ingenieurin oder Raketentechnikerin, sie ist auch keine Angehörige der Astronauten. Sondern sie hat Geschichte und Politikwissenschaft studiert und wurde im Fach Soziologie promoviert. Ihr ungewöhnliches Forschungsfeld: die Soziologie der Raumfahrt. Im Rahmen ihrer Arbeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Smithsonian National Air and Space Museum in Washington und an der Freien Universität in Berlin machte Paola Castaño die Untersuchung der Raumfahrt zu ihrem Beruf. Derzeit ist sie am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität beschäftigt und arbeitet an einem Buchprojekt über die Forschung auf der Internationalen Raumstation ISS.
„Für meine Arbeit war es wichtig, einen Raketenstart einmal mit eigenen Augen gesehen zu haben. Es reicht nicht, nur darüber zu lesen“, erklärt Castaño den Grund für ihre Reise nach Baikonur. „Ich hatte extremes Glück, dass mein Antrag befürwortet wurde und ich, obgleich der Termin mehrfach verschoben worden ist, am Ende dabei sein konnte.“ Zunächst flog die Forscherin über Moskau und die kasachische Hauptstadt Astana nach Qysylorda, von hier aus brachte sie ein Bus ins noch einmal knapp 300 Kilometer entfernte Baikonur. „Fünf Tage lang hatte ich hier Gelegenheit, die komplexe Logistik und die Vorbereitung der Rakete zu beobachten. Als Außenstehender ahnt man nicht, welche hochkomplexen Prozesse da ablaufen.“ Zusätzlich konnte Castaño mit Beteiligten vor Ort sprechen und sie zu ihrer Arbeit und Motivation befragen – Interviews, die sie in ihrem Buch über die Raumfahrt verwenden möchte.
„Ich untersuche die ISS als transnationale Institution. Meinen Recherchen zufolge gibt es nur wenige Einrichtungen, die so sehr für gelungene internationale Zusammenarbeit stehen“, erklärt Castaño. „Das ist einzigartig.“ Konkret interessieren Paola Castaño die wissenschaftlichen Untersuchungen, die im „Weltraumlabor“ durchgeführt werden. „Ich beschäftige mich etwa mit Experimenten aus den Bereichen Biowissenschaften und Medizin, Botanik und Teilchenphysik. Dabei frage ich unter anderem nach dem Aufbau der Experimente und danach, wie sich bestimmte Arten zu denken, also bestimmte Verfahrensweisen in den Wissenschaften durchsetzen. Was verspricht man sich von den Experimenten? Was soll erreicht werden?“ Mithilfe von Recherchen in Archiven und qualitativen Interviews versucht Paola Castaño herauszufinden, was die Welt der Raumfahrt im Innersten zusammenhält.
„Die kollektive wissenschaftliche Leistung, die hinter einem solchen Projekt steckt, ist enorm“, sagt Castaño. Doch auch die Rituale, die einen Raketenstart begleiten, seien höchst bemerkenswert. So wird die Rakete traditionell mit einer Diesellok vom Hangar bis zur Abschussstelle transportiert und vor dem Start von orthodoxen Priestern mit Weihwasser gesegnet. „Der Moment, als die Rakete startete und innerhalb kürzester Zeit im Nachthimmel verschwand, war absolut überwältigend“, schwärmt Castaño. Neben ihr habe ein Paar gestanden, das weinte und sich in den Armen lag. Es waren die Eltern des französischen Astronauten Thomas Pesquet, der soeben erfolgreich ins All geschossen worden war. „Alle in Baikonur waren erleichtert, ergriffen und inspiriert zugleich. All das stimmt hoffnungsvoll. An der Raumfahrt lässt sich erkennen, wie viel Menschen, wenn sie zusammenarbeiten, erreichen können.“