„Der Fußballer denkt mit den Füßen“
Gunter Gebauer, emeritierter Professor für Philosophie an der Freien Universität, über eine philosophische Betrachtung des Fußballs
10.06.2016
Heute ist Anpfiff zur Fußball-Europameisterschaft 2016 – Zeit um sich zu fragen, was den besonderen Reiz dieser Sportart ausmacht, dem in den nächsten Wochen wieder Millionen erliegen werden. Das dachte sich auch Gunter Gebauer und hat im Frühjahr sein neues Buch veröffentlicht: „Das Leben in 90 Minuten. Eine Philosophie des Fußballs.“ Der Sportphilosoph entwirft darin eine anthropologische Interpretation des Fußballs und fragt sich, warum auf die Hand in diesem Sport verzichtet wird. Weiter beschäftigt er sich mit der künstlichen Verknappung von Raum und Zeit im Spiel, dem religiösen Charakter des Fußballs und den soziologischen, politischen und kulturgeschichtlichen Aspekten der Sportart.
Herr Professor Gebauer, warum ist die Hand im Fußball verboten?
Normalerweise erledigen wir komplexe Aufgaben mit der Hand. Diese Leistungen müssen im Fußball auf die Füße übertragen werden; sie müssen quasi neu erlernt werden. Der Fußballer muss mit den Füßen denken. Er ist hilfloser als andere Sportler, zurückgeworfen auf eine evolutionäre Ebene. Daher ist die Mannschaft beim Fußball so wichtig und in der Aufstellung auch viel flexibler als etwa beim Rugby.
Im Fußball entstehen daher immer neue Strategien, so wie das Tiki-Taka, also das Kurzpassspiel der Spanier. Entscheidend ist außerdem der Glaube an die Regeln und den Tatsachenentscheid des Schiedsrichters. Es gibt kaum technische Einflüsse im Regelwerk und auch keine Spielwiederholungen bei Fehlentscheiden. Einerseits um den Spielfluss nicht zu unterbrechen, andererseits um die „Reinheit des Glaubens“ an das Spiel nicht zu trüben.
Ist der Fußball eher ein klassisches Drama oder ein ästhetisierter Kampf?
Ich stimme klar der Dramen-Metapher zu. Der symbolische Kampf währt immer nur für die Dauer des Spiels. Mit Mannschaften ist es eher wie bei Shakespeare mit dem Aufstieg und Niedergang von Königreichen oder Herrschern.
Fußball ist daher auch ein Quell für Legenden. Der deutsche WM-Sieg von 1954 wird heute als das größte Ereignis der deutschen Fußballgeschichte gesehen. Ich habe damals als Junge selbst vor dem Radio gesessen. Natürlich waren die Menschen kurzfristig begeistert, aber der identitätsstiftende Charakter wurde diesem Ereignis retroperspektiv zugeschrieben. Das sogenannte Wirtschaftswunder war später und die Schuld des Zweiten Weltkriegs war noch überhaupt nicht aufgearbeitet. Fußball wurde erst in den 1970er Jahren zu einem Nationalsport, an dem die ganze Bevölkerung teilnahm.
Auch bei dieser EM werden sich auf den Public-Viewing-Meilen wieder wildfremde Menschen jubelnd in den Armen liegen. Wie kann man das erklären?
Es geht um das Erzeugen einer gemeinsamen Atmosphäre. Das „Ich“, so hat es Elias Canetti beschrieben, wird in der Masse aufgefangen. Aber auch die Identität jedes Fans wird erhöht. Das geht so weit, dass die Fans den Eindruck haben, selbst Anteil am Sieg gehabt zu haben. Das klingt komisch, macht aber die Magie des Fußballs aus.
Frankreich könnte dieses Gemeinschaftsgefühl gerade sehr gebrauchen, denn das Land hat mit vielen Problemen zu kämpfen. Ich hoffe, dass die WM friedlich verläuft; die Möglichkeit für Terroranschläge erfüllt mich mit großer Sorge.
Welches Team holt in diesem Jahr den Titel?
Ich tippe auf den Sieg der französischen Mannschaft; jedenfalls würde ich ihn dem Land sehr gönnen.
Weitere Informationen
Soeben erschienen ist das Buch Gunter Gebauer: Das Leben in 90 Minuten. Eine Philosophie des Fußballs. Pantheon Verlag, München 2016. In unserem EM-Gewinnspiel verlosen wir drei Exemplare davon.