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Das Lebensende zwischen zwei Lebenswelten

Wissenschaftler der Freien Universität untersuchen, warum russischsprachige Zuwanderer nur selten Angebote der deutschen Palliativversorgung in Anspruch nehmen

10.03.2016

Eine vertrauensvolle Beziehung zum behandelnden Arzt ist in jedem Lebensalter wichtig. Für Menschen, die in einer ihnen fremden Kultur krank werden und sterben, spielt eine angemessene Versorgung eine besondere Rolle.

Eine vertrauensvolle Beziehung zum behandelnden Arzt ist in jedem Lebensalter wichtig. Für Menschen, die in einer ihnen fremden Kultur krank werden und sterben, spielt eine angemessene Versorgung eine besondere Rolle.
Bildquelle: istockphoto / vm istockphoto.com

Rund vier Millionen Zuwanderer aus russischsprachigen Ländern leben in Deutschland. „Sie nehmen seltener als die deutsche Mehrheitsgesellschaft Einrichtungen zur Palliativversorgung wie Hospize oder spezialisierte ambulante Angebote in Anspruch – obwohl sie natürlich auch sterben und diese Versorgung bräuchten“, sagt Uwe Flick, Erziehungswissenschaftler an der Freien Universität. Er leitet das Projekt „PALQUALSUM: Palliative Lebensqualität – Inanspruchnahme von Versorgungsangeboten durch russischsprachige Migrantinnen und Migranten“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird.

Die Studie soll klären, was russischsprachige Migranten davon abhält, sich Hilfe zu suchen. Dazu untersuchen die Wissenschaftler einerseits, wie die Sterbenskranken sich ihr Lebensende wünschen und wie Angehörige mit der Pflege ihrer Familienmitglieder umgehen. Andererseits erfassen sie die Probleme der professionell an der Betreuung Beteiligten und leiten davon ab, wie sich die deutsche Palliativversorgung verändern muss, um Familien mit Migrationshintergrund möglichst gut zu unterstützen.

Heterogene Gruppe

Flick dämpft die Hoffnung auf einfache Lösungen: „Russischsprachige Migranten sind eine sehr heterogene Gruppe – das liegt an ihrer Herkunft aus den unterschiedlichen Ländern der früheren Sowjetunion und der besonderen Situation der zahlreichen Russlanddeutschen und jüdischen Zuwanderer. Da treffen auch kulturelle Differenzen aufeinander.“ Ärzte und Pflegende könnten nicht allein, weil ein Patient russisch spricht, davon ausgehen, dass ein bestimmtes interkulturelles Kommunikationsset passt. Die Wissenschaftler wollen deshalb ein Handbuch für Palliativexperten entwickeln, um sie für die kulturellen Besonderheiten zu sensibilisieren – ohne Stereotype zu bilden. Dafür haben sie 52 Ärzte, Psychologen, Pflegende, Sozialarbeiter, Seelsorger und Ehrenamtliche nach ihren Erfahrungen befragt.

Sozialisation spielt auch im Umgang mit Krankheiten eine Rolle

„In Deutschland ist es für Ärzte ein großes Problem, wenn sie Patienten nicht direkt, offen und ohne Vermittler über die Behandlung aufklären können. Vor allem, wenn sie das Gefühl haben, dass der Patient nicht selbstbestimmt entscheidet, wie es weitergehen soll“, sagt die Projektmitarbeiterin Silke Migala. Nicht nur Sprachbarrieren erschwerten dabei die Kommunikation. Wenn Familienmitglieder übersetzten, sagten sie den Ärzten oft: „Wir wollen nicht, dass unser Angehöriger aufgeklärt wird. Wir geben ihm diese Informationen nicht. Wir entscheiden.“

Aus Gesprächen mit zehn Medizinern und Psychologen in Russland erfuhren die Forscher, dass es dort eher üblich ist, Angehörige umfassender zu informieren als den Patienten selbst. Zugleich erwarteten viele Zuwanderer ein beinahe familiäres Vertrautsein mit dem Arzt. Manche Experten beschrieben die Herausforderung so: „Ich muss es schaffen, Familienmitglied auf Zeit zu werden, dann gelingt die Kommunikation auch besser.“

Zentrale Rolle der Familie

Die zentrale Rolle der Familie ist es vielleicht auch, die viele Angehörige abhält, Hilfe zu suchen. Sogar dann, wenn sie offensichtlich überfordert sind. „Die Familien betonen immer wieder, dass man niemanden abgibt, weder in ein Heim noch in ein Hospiz“, sagt Migala.

Wenn die Versorgung in der Familie schließlich nicht mehr möglich ist, profitierten russischsprachige Migranten sehr stark von „Rooming-In“-Angeboten in Hospizen oder von Zustellbetten auf Palliativstationen. Diese Angebote seien vielen aber gar nicht bekannt, sagt Migala. „Sie stellen sich Hospize als Orte des Grauens vor. Und sind dann sehr überrascht, nette, freundliche Räume zu erleben, wo das Personal viel mehr Zeit hat als in einem gewöhnlichen Krankenhaus und die Familien sogar 24 Stunden vor Ort sein dürfen.“

Unterschiede zwischen den Generationen

Die Wissenschaftler haben 31 russischsprachige Patienten und ihre Angehörigen interviewt. Diese erzählten von sehr unterschiedlichen Lebensumständen und Bedürfnissen. „Gerade jüngere Menschen hinterfragen zunehmend bestimmte Einstellungen, wie etwa die traditionelle Rolle der Familie“, sagt Migala. Einige Gemeinsamkeiten kristallisierten sich dennoch heraus. Russischsprachige Migranten sind meist ambivalent gegenüber einer offenen Aufklärung und betonen, wie wichtig es ihnen ist, den Patienten die Hoffnung nicht zu nehmen. Damit zusammen hängt oft der Wunsch nach lebensverlängernden Maßnahmen.

Die Zuwanderer brächten Ärzten ein gewisses Misstrauen entgegen, das aus Russland stammt, wo der Grund für den Abbruch von Maßnahmen oft kein medizinischer sei, sondern fehlende Therapiemöglichkeiten oder fehlendes privates Vermögen, um Therapien zu finanzieren. Migala sagt: „Sie hoffen, dass man bis zuletzt alles ausschöpft, was geht.“ Medikamente gegen starke Schmerzen lehnten manche Patienten dagegen ab. „Häufig äußern sie den Wunsch, bei klarem Verstand zu bleiben. Opiate sind negativ besetzt, weil sie das Bewusstsein trüben oder mit einer Abhängigkeitsproblematik verknüpft werden“, erklärt Migala.

Russischen Alltag bewahren

Vielen Patienten sei es wichtig, sich ein Stück Alltag zu erhalten: russische Filme zu schauen, russische Musik zu hören, russisches Essen zu bekommen. Flick stellt fest: „Da gibt es starke Defizite. Vor allem in stationären Einrichtungen fühlen sich viele aus ihrem früheren Leben herausgerissen, völlig isoliert.“

Die Studie wirft die Frage auf, inwiefern migrationsspezifische beziehungsweise muttersprachliche Versorgungsangebote nötig sind. In Berlin bietet immerhin ein Hospizdienst russischsprachige Begleitung durch Ehrenamtliche an. Eine stärkere Etablierung des Einsatzes von Kultur- und Sprachmittlern könnte ein weiterer Schritt sein. Besonders wichtig ist es, die Einrichtungen zu sensibilisieren und auf eine stärkere Vernetzung zwischen den Angeboten der Palliativversorgung und auf Migranten spezialisierte Beratungs- und Informationsstrukturen sowie den sozialkulturellen oder religiösen Lebensräumen hinzuwirken.

Die Studie soll Ende des Jahres abgeschlossen sein. Die Ergebnisse will das Team um Uwe Flick für Ärzte, Pflegende und andere Betreuer aufbereiten und sie in die Weiterbildung zum Beispiel von Ehrenamtlichen einfließen lassen. Außerdem wollen sie Informationsmaterial für russischsprachige Zuwanderer entwickeln, um sie darüber aufzuklären, was Palliativversorgung in Deutschland bedeutet und welche Angebote zur Verfügung stehen. Um ihnen die gleichen Chancen auf einen Abschied in Würde zu bieten.