Unfreiwillige Spiele
Theater in Gefängnissen, Schulen, Kliniken, Unternehmen und anderen hierarchischen Organisationen
29.06.2015
Unter dem Titel „Unfreiwillige Spiele – Zur Formung von Subjektivität in einer theatralen Gesellschaft“ erörtern am 3. und 4. Juli Expertinnen und Experten aus den Theaterwissenschaft und anderen Geisteswissenschaften das Potenzial der performativen Künste, Persönlichkeiten zu formen und zu verändern. Sie diskutieren, welche theatralen Techniken zu welchen Zwecken bei der Arbeit mit Insassen, Patienten, Schülern oder Arbeitnehmern eingesetzt werden. Natascha Siouzouli ist Mitorganisatorin der Tagung und Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „The Aesthetics of Applied Theatre“ am Institut für Theaterwissenschaft. Campus.leben sprach mit ihr über „Unfreiwillige Spiele“ und fragte, was sich hinter dem Begriff verbirgt.
Frau Siouzouli, mit einem Theaterbesuch verbindet man in der Regel eine freiwillige Handlung. Viele Besucher zelebrieren den Gang ins Theater. Wie kann man sich nun eine Theateraufführung in einer „unfreiwilligen“ Umgebung vorstellen?
In der Tat verbindet man den Besuch einer Aufführung meist nicht mit Zwang, auch Regisseurinnen und Regisseure, Schauspielerinnen und Schauspieler spielen üblicherweise aus eigenem Antrieb mit. Theatrale Praktiken werden allerdings in sehr unterschiedlichen Kontexten mit den unterschiedlichsten Zielen eingesetzt. Theater wird in diesem Sinne für bestimmte Zwecke funktionalisiert.
So muss oft „das Theater“ kommerzielle Botschaften übermitteln, heilende Kräfte mobilisieren, über Gefahren instruieren, Kommunikation ermöglichen und vieles mehr. Diese Theaterpraktiken werden unter der Kategorie „applied theatre“ aufgefasst, was so viel wie angewandtes Theater bedeutet. Sie werden sehr oft im Rahmen institutioneller Arbeit eingesetzt und verlangen von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern eine Haltung, die sich merklich von der Teilnahme an einer Theateraufführung – wie wir sie kennen – unterscheidet.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an einem Applied-Theatre-Projekt sind vor allem da, um im Spiel etwas Bestimmtes zu erzielen. Diese Zweckgebundenheit eines Theaterprojekts, die davon lebt, dass bestimmte Adressaten auch tatsächlich mitspielen, hat unseres Erachtens dann wenig mit Freiwilligkeit zu tun. Das ist nur ein Beispiel, es gibt zahlreiche aus dem weiten Spektrum der ästhetischen Praktiken, mit denen wir uns auch in der Konferenz auseinandersetzen.
Zu welchen Zwecken werden theatrale Techniken zum Beispiel in Gefängnissen oder in Unternehmen angewendet? Und welche Rolle spielen dabei die besonderen institutionellen Rahmenbedingungen?
Theatrale Praktiken werden in unterschiedlichen Kontexten eingesetzt: in Schulen, um zum Beispiel gegen Diskriminierung und Rassismus aufmerksam zu machen, oder in der Psychotherapie, etwa um Traumata aufzudecken und zu behandeln. Sehr oft wird in Gefängnissen mit Theater gearbeitet. Dabei geht es den Organisatoren solcher Projekte um eine profunde Arbeit mit den Insassen, die unter anderem deren kreatives Potential zum Ausdruck bringen und die Kommunikation unterstützen soll.
Auch Unternehmen haben für sich die Kraft des Theaters entdeckt und greifen gerne auf theatrale Darbietungen zurück, um beispielsweise dem Personal größere strukturelle Veränderungen nahe zu bringen, funktionale Defizite „auf spielerische Art und Weise“ aufzudecken – oder auch, um die Mitarbeiter zu amüsieren. Was ich hier erwähne, betrifft freilich die Intention der Initiatoren. Was daraus zum Schluss entsteht, lässt sich oft nicht gänzlich steuern, geschweige denn in allen Aspekten kontrollieren. Insofern existiert immer ein Restrisiko, das im Theater selbst steckt, und das eventuell die Institution destabilisieren könnte.
Ist „unfreiwilliges Spiel“ generell ein eher neues Forschungsgebiet? Und wie wird dieses Themengebiet am Institut für Theaterwissenschaft in Lehre und Forschung aufgegriffen?
In der Theatergeschichte finden sich mehrere Beispiele, in denen theatrale Darbietungen für bestimmte Zwecke eingesetzt wurden – und dies derart offensichtlich, dass man nicht mehr von einer freiwilligen Teilnahme sprechen kann: die griechische Antike, das Mittelalter, aber auch die Frühmoderne sind hier paradigmatisch für ein funktionsreiches Theater.
Seit den 1960er und 1970er Jahren besinnt man sich programmatisch auf ein Theater zurück, das die Kraft besitzt, bestimmte Funktionen zu erfüllen. Besonders interessant für uns am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität ist die Frage, wie die jeweils beabsichtigte Funktion ästhetisch umgesetzt wird. Wir suchen speziell in Europa, Afrika und Amerika nach den theatralen Formen und ästhetischen Sprachen, die eingesetzt werden, damit eine solche Funktionalisierung überhaupt erst möglich ist.
Die Fragen stellte Stephan Töpper
Weitere Informationen
- Video-Vorschau: Marianne Flotrons "Work", die während der Konferenz gezeigt wird.
- Die Konferenz findet am Freitag, 3. Juli und Samstag, 4. Juli statt. Die Konferenz ist öffentlich, der Eintritt ist frei.
- Ort: Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin, Hörsaal, Grunewaldstraße 35, 12165 Berlin, U- und S-Bhf. Rathaus Steglitz (U9, S1) , Bus X83