Priester, Proteste und Pussy Riot
Forscher des Osteuropa-Instituts untersuchen den Stellenwert, den Religion heute in postkommunistischen Ländern hat
06.12.2012
Der Prozess gegen die Mitglieder der regimekritischen Punkband Pussy Riot machte es für alle Welt offensichtlich: Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs hat sich das Verhältnis zwischen Staat und Religion in Russland maßgeblich verändert. Religion spielt zunehmend eine Rolle in der politischen Öffentlichkeit. Am Osteuropa-Institut der Freien Universität haben sich Nachwuchswissenschaftler verschiedener Disziplinen zu einer Arbeitsgruppe zusammengeschlossen und beschäftigen sich mit dieser Entwicklung. Bei einem Workshop in St. Petersburg debattierten sie mit russischen Kolleginnen und Kollegen etwa über die Rolle des Islam in Russland und den jugoslawischen Nachfolgestaaten, über die deutsche Beschneidungsdebatte – und natürlich über Pussy Riot.
Für Juniorprofessor Burkhard Breig vom Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin und Julia Gerlach, wissenschaftliche Mitarbeiterin, passt der Fall der verurteilten Aktivistinnen ins Bild: Seit rund einem Jahr setzt sich die Arbeitsgruppe am Osteuropa-Institut mit den Spannungsfeldern zwischen Politik und Religion, zwischen Recht und Religion oder Gesellschaft und Religion in Osteuropa auseinander. „Interessanterweise haben diese Themen in der letzten Zeit in der Öffentlichkeit enorm an Relevanz gewonnen“, sagt Julia Gerlach.
Beim Workshop mit dem Titel „Under Construction: The Role of Religion in Eastern Europe Today” trafen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Freien Universität mit Kollegen und Rechtsanwälten aus St. Petersburg zusammen. Die Veranstaltung im Rahmen des Deutsch-Russischen Wissenschaftsjahres sei vom aktuellen Fall von Pussy Riot „überschattet“ worden, berichtet Julia Gerlach. „Wir hatten einen bekannten russischen Menschenrechtsanwalt zu Gast, der den Fall und die Verteidigungsstrategien der Anwälte analysiert hat“, sagt Burkhard Breig. Derart vermittelte Innensichten machten Abläufe verständlich, die mit unserem hiesigen Rechtsverständnis oftmals schwer nachvollziehbar seien – vor allem angesichts einer immer noch teilweise von Obrigkeitshörigkeit geprägten russischen Justiz.
Die neue Rolle der Religion
Völlig gegenläufige Tendenzen in Kultur und Gesellschaft beobachten die Wissenschaftler seit der Auflösung der Sowjetunion: Gläubige würden nicht mehr benachteiligt, sodass die Menschen ihre Religion stärker im Privaten ausleben könnten. Der neue Stellenwert des Glaubens zeige sich vor allem im Alltagsleben: „Vor Ostern bekommt man beispielsweise überall vegetarische Teigtaschen als Fastenspeise“, sagt Breig, „vor 15 Jahren wäre das nahezu unmöglich gewesen.“
Sogar im Fernsehen sind religiöse Themen heute omnipräsent: Sogar Putins Beichtvater steht in der Öffentlichkeit – nicht zuletzt, weil die Regierung eine „Einheit des Volkes“ anstrebe und die Orthodoxie als Teil der Leitkultur propagiere, wie Breig sagt. Julia Gerlach sieht hier einen Findungsprozess im Gange: Einerseits seien die Bürger dafür empfänglich, da sie nach Identifikation suchten, andererseits sei es auch eine „von oben“ gewollte Entwicklung. „Russland sieht sich als Vielvölkerstaat mit vielen Religionen, aber als das spezifisch Russische gilt die Orthodoxie.“
Der Islam wird auch in Russland stärker
Auch das Verhältnis zwischen Islam und Christentum wurde im Rahmen des Workshops erörtert. Die demografische Entwicklung führe in Russland auf lange Sicht zu einem Übergewicht an islamischen Einwohnern, sagt Julia Gerlach: „Bei dieser Entwicklung schwingt durchaus Angst mit. Das wiederum befördert die Orthodoxie als Mittel, durch das man sich abzugrenzen versucht.“ Das vorherrschende Islam-Bild sei durch die Instrumentalisierung von Religion in der Auseinandersetzung zwischen Russland und Tschetschenien nicht unbedingt positiv geprägt, sagt die Wissenschaftlerin.
Groß war auf russischer Seite das Interesse für die deutsche Integrationsdebatte. „Wir haben von uns aus Themen wie das aktuelle Beschneidungsurteil eingebracht“, ergänzt Burkhard Breig. „So treten wir nicht als ‚Ankläger‘ auf, sondern zeigen, dass die Grenzen zwischen Gesellschaft, Recht und Religion auch in Deutschland nicht klar verlaufen.“ Denn ein idealer säkularer Staat sei auch Deutschland nicht.
Nach einem ersten Workshop 2011 in Berlin und dem diesjährigen Treffen an der Staatlichen Universität St. Petersburg, planen die Mitglieder der Arbeitsgruppe des Osteuropa-Instituts für 2013 eine Zusammenkunft in Makedonien. Im Internet: www.fu-berlin.de/oei |