In einem Land vor unserer Zeit
Ein interdisziplinäres Forscherteam untersucht den Einfluss prähistorischer Wanderbewegungen auf vergangene Landschaften
08.08.2012
Auch Wissenschaftler haben zuweilen Fortuna auf ihrer Seite. Jene Altertumsforscher etwa, die nahe der thüringischen Stadt Nordhausen zwei längst vergangenen Kulturen auf der Spur sind: „Die Einwanderung einer Gruppe in eine anders strukturierte Gesellschaft kann Spannungen schaffen. Wird eine solche Situation in einer weit zurückliegenden Zeit erkannt und analysiert, ist dies für Archäologen ein seltener Glücksfall“, sagt Michael Meyer, Professor am Institut für Prähistorische Archäologie der Freien Universität Berlin und Direktor des Exzellenzclusters Topoi.
„Tatsächlich konnten wir in der südlich des Harzes gelegenen Goldenen Aue in der jüngeren Eisenzeit die Einwanderung einer größeren Gruppe von Menschen aus dem südpolnischen Raum nachweisen“, sagt Meyer. Die archäologische Untersuchung dieser prähistorischen Begegnung ist ein Teilprojekt von Topoi, einem gemeinsamen Forschungsverbund von Wissenschaftlern der Freien Universität und der Humboldt-Universität, der Mitte Juni den Zuschlag für eine weitere fünfjährige Förderung im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder erhalten hatte.
Was veränderte sich durch die Einwanderer?
Das Zusammentreffen der im Südharzvorland siedelnden Latène-Kultur mit Einwanderern der polnischen Przeworsk-Kultur ab 200 bis etwa 50 v. Chr. erforschen die Wissenschaftler zum einen mit klassischen archäologischen Methoden wie Grabungen – die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert werden – und der Interpretation der Funde. Zum anderen werden naturwissenschaftliche Untersuchungen vorgenommen, etwa Bohrkernsondierungen, Sedimentanalysen im Labor, Georadar und die Auswertung von Relief- und Fernerkundungsdaten. „Wir wollen nicht nur herausfinden, wie sich die Ankunft der Einwanderer auf die Landschaft auswirkte, sondern auch, ob die Neuankömmlinge die bereits bestehenden Siedlungsmuster in der Region veränderten“, erklärt Projektleiter Philipp Hoelzmann vom Institut für Geographische Wissenschaften der Freien Universität Berlin.
Eingriffe von Menschen in der Frühzeit nachvollziehen
Zugleich versuchen die Forscher zu ermitteln, welchen Veränderungen die Landschaft über Jahrtausende ausgesetzt war und inwieweit dies Auswirkungen auf besondere Standortfaktoren und Siedlungsmuster hatte. Auch die klimatischen Bedingungen gegen Ende des zweiten Jahrhunderts v. Chr. spielen eine Rolle – etwa bei der Verfüllung von geologisch vorgeprägten Rinnen durch Erosion, die durch die Besiedlung ausgelöst wurde. „Bei der Untersuchung vergangener Landschaften können wir räumliche Verteilungsmuster von Rohstoffen oder Eingriffe der frühgeschichtlichen Menschen in den Naturraum nachvollziehen“, erläutert die zweite Projektleiterin Wiebke Bebermeier. „Diese wiederum könnten erklären, wie frühere Kulturen ihre Umwelt wahrgenommen oder gegliedert haben“, sagt die Juniorprofessorin am Institut für Geographische Wissenschaften der Freien Universität.
Internationale Fachtagung zur Landschaftsarchäologie
Die Untersuchungsergebnisse zur Siedlungsgeschichte des Südharzvorlands konnte Philipp Hoelzmann kürzlich auf einer internationalen Fachtagung zur Landschaftsarchäologie an der Freien Universität präsentieren. Wiebke Bebermann hatte die Tagung mit Teilnehmern aus mehr als 20 Ländern zusammen mit der Archäologin Elke Kaiser organisiert. Hoelzmanns Fazit: „Wegen der Erosion und Sedimentverfrachtungen im Neu-Siedlungsgebiet während der Przeworsk-Kultur haben wir nur tieferliegende, vom Menschen verursachte Spuren gefunden – etwa Pfostensetzungen oder Gruben. Dafür konnten wir aber die ursprüngliche Landschaft zum Besiedlungszeitraum darstellen“, sagt der Geowissenschaftler.
Ebenso konnten die Forscher zeigen, dass die Einwanderer aus dem Osten eindeutig andere Prioritäten hatten als die ansässige Kultur: Im Gegensatz zu den Einheimischen siedelten die Neuankömmlinge bevorzugt an den Randlagen der Goldenen Aue. Die geschichtliche Analyse der Besiedlung der Region zeigt, dass der Raum von den Einwanderern völlig neu genutzt wurde. Nie zuvor gab es eine derartige Besiedlung der Randlagen. Ein Grund dafür könnte der Ackerbau sein: Hier lagen die letzten Ausläufer ergiebiger Böden, nur wenige hundert Meter weiter nördlich war die Landwirtschaft aufgrund einer anderen Geologie wenig ertragreich. Vor allem aber bauten die Neusiedler ihre Gehöfte auf leicht erreichbaren Eisenerzvorkommen. Toneisenstein streicht hier geologisch aus, der auch heute noch direkt von den Feldern aufgesammelt werden kann.
Parallele Raumkonzepte beweisen die Koexistenz der Kulturen
„Die parallelen Raumkonzepte der lokalen Siedler und der Vertreter der Przeworsk-Kultur erzählen die Geschichte einer austarierten Koexistenz“, sagt Topoi-Direktor Michael Meyer. Die Interpretation späterer Siedlungen zeigt jedoch, dass die Einwanderer langfristig dominierten. Was die Migranten eingangs bewogen hatte, ihre Heimat im Osten zu verlassen, sollen weitere Untersuchungen im Ursprungsland der Przeworsk-Kultur im heutigen Polen zeigen.