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„Am Ende der Krise wird es mehr und nicht weniger Europa geben“

Interview mit der Politikwissenschaftlerin Tanja Börzel, Koordinatorin des „Jean Monnet Centre of Excellence“

16.07.2012

Die EU-Gemeinschaft bröckelt: Wie geht es mit der Europäischen Union weiter?

Die EU-Gemeinschaft bröckelt: Wie geht es mit der Europäischen Union weiter?
Bildquelle: Martin Wimmer / IStockphoto

Die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Tanja A. Börzel.

Die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Tanja A. Börzel.
Bildquelle: Jean Monnet Centre of Excellence

„Die EU und ihre Bürger“ – diesen Titel trägt das „Jean Monnet Centre of Excellence“ an der Freien Universität. Die von der Europäischen Union finanzierte Forschungseinrichtung ist darauf angelegt, die wissenschaftliche EU-Kompetenz an der Universität zu bündeln und zudem die Forschung an der Hochschule zur Europäischen Union einer breiteren Öffentlichkeit näherzubringen. Campus.leben sprach aus Anlass der Abschlusskonferenz des Centres mit der Koordinatorin, Professorin Tanja Börzel: über die Arbeit der Forschungseinrichtung und die aktuelle Lage der Europäischen Union.

Frau Professor Börzel, mit Bundespräsident Joachim Gauck gefragt: Muss man den Bürgern Europa besser erklären?

Es ist nicht so, dass die Bundesregierung den Bürgern gar nichts erklärt, es wurden verschiedene Regierungserklärungen abgegeben. Ich denke, dass sie allerdings nicht immer schnell genug reagiert. Nach dem letzten EU-Gipfel etwa hat die Bundeskanzlerin die Medienhoheit dem italienischen Premier Mario Monti und dem französischen Präsidenten François Hollande überlassen. Angela Merkel hätte nach dem Gipfel selbst gleich vor die Presse treten müssen, um zu vermeiden, dass der Kompromiss als deutsche Niederlage dargestellt wird – denn das war er nicht. Die Beschlüsse stellen einen echten Kompromiss dar. Diese Situation hat zur Verunsicherung der deutschen Bürgerinnen und Bürger beigetragen. Das ist unglücklich und unnötig.

Wozu wird am „Jean Monnet Centre of Excellence: Die EU und ihre Bürger“ gearbeitet?

Der Ökonom Philip Engler hat ein Modell erstellt, wie die Euro-Krise kurzfristig gemanagt werden kann. Der Politikwissenschaftler Thomas Risse beschäftigt sich mit der Frage von Identität und Solidarität: Gibt es in Europa genügend Akzeptanz für die Rettungsschirme? Es sind schließlich nicht nur die die Deutschen, die gegebenenfalls zahlen müssen. Auch von den Griechen, Spaniern, Italienern und wahrscheinlich auch von den Franzosen werden massive Abstriche verlangt. Die Kommunikationswissenschaftlerin Barbara Pfetsch arbeitet zum Thema der europäischen Öffentlichkeit, der Soziologe Jürgen Gerhards zu Mehrsprachigkeit in der Europäischen Union und der Frage, ob sich Europa die finanzielle Förderung der Sprachen von bald 28 Mitgliedstaaten leisten kann.

Der Europarechtler Christian Calliess beschäftigt sich direkt mit der Unionsbürgerschaft. Ich selbst forsche zur Regelbefolgung innerhalb der EU: deren Mangel wird von einigen als Ursache für die heutige Krise gesehen. Es waren schließlich Deutschland und Frankreich, die die in Maastricht festgeschriebenen Regeln 2005 zuerst gebrochen haben. Mit anderen Worten: Hätten sich alle an die sich selbst auferlegten Regeln gehalten, befänden wir uns jetzt vielleicht nicht in der Krise.

Wenn der Euro scheitert, scheitert dann auch die Europäische Union?

Zunächst einmal glaube ich nicht, dass der Euro scheitert. Schlimmstenfalls werden einzelne Länder aussteigen. Der politische Wille momentan ist aber, alle Länder im Euro zu halten. Insofern ist es hypothetisch, darüber nachzudenken, was passieren würde, sollte der Euro scheitern. So oder so werden wir aus der Krise herauskommen. Ich behaupte sogar, dass es am Ende mehr und nicht weniger Europa geben wird.

Wie kann man die Bürger für Europa zurückgewinnen – oder waren sie nie verloren?

Es ist nicht so, dass die Bürger das Gefühl haben, sie würden für Europa nur zahlen. Ich glaube, dass die Deutschen das differenzierter sehen und vielen klar ist, dass Deutschland massiv vom Euro profitiert hat und profitiert. Wir haben beispielsweise noch nie so niedrige Zinsen gezahlt. Bei der letzten Umfrage von „Infratest dimap“ gaben zudem 58 Prozent der Befragten an, sie unterstützten die Europapolitik der konditionierten Hilfe der Bundeskanzlerin. Das heißt, dass die Deutschen unter bestimmten Auflagen nach wie vor bereit sind, gegebenenfalls Geld zu bezahlen. Für einen allgemeinen Europaskeptizismus in Deutschland oder Europa gibt es keine Belege.

Ihre Prognose: Wie sieht Europa in 20 Jahren aus?

Wenn wir verhindern können, dass Spanien abrutscht und Italien und Frankreich mitreißt, ließe sich die Krise eindämmen und überwinden. Hierfür müssen wir nicht nur die Schulden- und Bankenkrise angehen, sondern auch die Wachstumskrise, das heißt, die Wirtschaft wieder ankurbeln. Der nächste Schritt wäre dann, über weitere Kompetenzübertragungen auf die europäische Ebene nachzudenken.

Dem werden sich voraussichtlich nicht alle Mitgliedsstaaten anschließen, und die differenzierte Integration in Europa wird weiter wachsen. Sollte die Währungsunion durch eine wirkliche Wirtschafts- und Fiskalunion ergänzt werden, wird es darauf hinauslaufen, dass nur ein Teil der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, vielleicht ein Großteil der in der Euro-Gruppe versammelten EU-Mitgliedstaaten, noch einmal einen entscheidenden Integrationssprung nach vorne macht, sodass wir dann wirklich ein Europa der zwei Geschwindigkeiten haben werden. Und zwar im Kernbereich der EU: der Wirtschaft."

Wäre das gut oder schlecht?

Wir leben bereits seit längerem damit, dass immerhin zehn der 27 EU-Mitgliedsstaaten nicht im Euroraum mitmachen. Dabei haben sich die Staaten mit dem Beitritt zur Europäischen Union verpflichtet, auch dem Euro beizutreten. Aber sie müssen zusätzlich Konvergenzkriterien erfüllen. Die Schweden beispielsweise wollen den Euro nicht, also sorgen sie dafür, dass sie zumindest eines der Konvergenzkriterien nicht erfüllen.

Auch in Mittel- und Osteuropa ist der Appetit auf den Euro nicht gerade gewachsen. Einige der Länder sehen ihren Wettbewerbsvorteil gerade darin, über ihre Währung auf dem Markt zu konkurrieren. Und das ist auch gut so. Denn ein großes Problem des Euros ist es, dass die Länder zu heterogen sind. Es war ein Fehler, Griechenland aufzunehmen, und es war vielleicht auch ein Fehler, Spanien und Italien aufzunehmen. Doch jetzt ist es zu spät: Jetzt müssen wir damit umgehen.

Die Fragen stellte Jan Hambura.