Ölringen für die nationale Identität
Die Islamwissenschaftlerin Birgit Krawietz untersucht die Rolle des Sports in der asiatisch-islamischen Welt
10.03.2011
Ölringen – eine Sportart, bei der sich die Ringkämpfer bei einem Wettbewerb mit Öl einreiben, hat in der westlichen Türkei und auf dem Balkan eine Jahrhunderte alte Tradition. In der Stadt Edirne, gut 200 Kilometer westlich von Istanbul, findet jeden Sommer ein Festival zu Ehren dieses Kampfsportes statt, im Juni 2011 zum angeblich 650. Mal. Ein Anlass für die Türkei, auf der gerade stattfindenden Internationalen Tourismusbörse (ITB), eine Gruppe Ölringer zu präsentieren.
Fachkundiges Publikum ist ihnen in Berlin gewiss: Birgit Krawietz ist Professorin am Institut für Islamwissenschaft der Freien Universität und forscht im Rahmen eines Verbundprojektes mit dem Zentrum Moderner Orient zum Thema „Sportwelten im Wettstreit: Konkurrierende Ordnungsmuster und Repräsentationsformen in den Körperkulturen Afrikas und Asiens“.
Im Fokus: sportliche Regelsysteme in der asiatisch-islamischen Welt und deren identitätsstiftende Praxen
Für ihre Forschungsarbeit ist die Wissenschaftlerin schon mehrmals zum Festival nach Edirne gereist. „Das ist ein zentraler Wettbewerb, zu dem sich immer mindestens 1.500 Ölringer aus der gesamten Türkei treffen“, sagt Birgit Krawietz. Die sportlichen Leistungen stehen dabei weniger im Fokus ihrer Forschung. Die Berliner Wissenschaftlerin untersucht sportliche Regelsysteme in der asiatisch-islamischen Welt und deren identitätsstiftende Praxen. „Sport ist ein wichtiges Prisma“, sagt Birgit Krawietz. „Damit hängen Selbstbewusstsein und Selbstwahrnehmung zusammen sowie die Frage, wohin man gehört und ob man europäisch ist.“ Gerade beim Ölringen ginge es um diese Themen, was auch die Legende zeige, die zur Entstehung des Festivals tradiert wird:
Die Ölringer-Legende
Mitte des 14. Jahrhunderts sollen 40 osmanische Grenzkrieger von Kleinasien nach Südosteuropa übergesetzt haben, um das Gelände auszuspähen. Zur Ablenkung und zur Entspannung führten sie zwischendurch Ringkämpfe untereinander auf. Bei einem dieser Kämpfe, so die Legende, wollten zwei Männer keine Pause machen. Sie rangen immer weiter, bis sie schließlich vor Anstrengung starben. Ihre Kameraden begruben sie und zogen weiter, um die Festung Edirne zu erobern. Anschließend kehrten die siegreichen Eroberer zurück, um für die beiden toten Ringer einen Grabstein zu errichten. Als sie jedoch zu ihrem Grab kamen, waren dort 40 kristallklare Quellen entsprungen.
Die Legende klingt pathetisch, auch ein bisschen nationalistisch, das sei beim Ölringen aber nur die eine Seite, sagt Birgit Krawietz: Die Türkei versuche gleichzeitig, mit dem Festival Touristen nach Edirne zu locken. So seien im vergangenen Jahr japanische Sumo-Ringer eingeladen worden. Damit diene der Sport wiederum der Internationalisierung. Dies bedeute auch eine Aneignung: Der Staat wolle den Sport für sich nutzen.
Nicht zu vergleichen: Ölringer und amerikanische Wrestler
Überhaupt sei Ölringen eine Sportart, bei der leicht einmal der Schein trügen könne, erklärt die Professorin: „Wenn man sich die Aufbereitungen zum Ölringen im Internet ansieht, gewinnt man einen ziemlich schiefen Eindruck.“ Da erschienen die Ölringer wie amerikanische Wrestler oder hinterwäldlerische Machos. Falsch, sagt Birgit Krawietz: „Es ist im Gegenteil so, dass der einzelne Ringer als Individuum oder Kunstfigur gar nicht herausgehoben wird. Im Stadion werden traditionelle Verse rezitiert, mit denen die Ringer zu Bescheidenheit und Respekt gegenüber dem anderen ermahnt werden.“ Die Kämpfe werden außerdem von Trommel- und Oboenklängen begleitet.
Nicht Kraft zählt, sondernTechnik, Intuition und Aufmerksamkeit
Anders als beim Boxen oder westlichen Ringen werden Ölringer nicht in Gewichtsklassen eingeteilt, sondern ihre Kampferfahrung spielt eine Rolle. Das ist sehr fair. Und da die Sportler sich beim Kampf mit Öl einreiben, sind sie so glitschig, dass dem Gegner Kraft gar nicht viel hilft. Für einen Sieg sind Technik, Intuition und Aufmerksamkeit viel wichtiger.