Tabubruch: Töten
Wissenschaftler betrachteten das Phänomen Töten aus unterschiedlichen Perspektiven anlässlich einer Tagung an der Freien Universität
23.02.2011
Kannibalismus, Lustmord, Selbstmord, Völkermord, Ehrenmord oder Märtyrertod – so unterschiedlich die Arten des Tötens sind, so perspektivenreich kann der Blick auf das Gewalt-Phänomen sein. „Töten. Affekte, Akte und Formen“ lautete der Titel der dreitägigen Tagung, die das Interdisziplinäre Zentrum für Historische Anthropologie und der Exzellenzcluster Languages of Emotion der Freien Universität gemeinsam mit der Gesellschaft für Historische Anthropologie veranstaltet haben.
Eigentlich ist alles ganz klar: „Beim Menschen entscheidet der freie Wille“, erklärt Christoph Wulf, Professor am Arbeitsbereich Anthropologie und Erziehung der Freien Universität. „Wir haben nicht wie die Tiere einen festen Instinktrahmen, der uns steuert. Wir können uns für oder gegen etwas entscheiden, wir können ‚Nein‘ sagen.“ Eigentlich. Warum in manchen Situationen und bei einigen wenigen Menschen diese Entscheidungsmöglichkeit gegen die extremste Form der Gewalt – das Töten – versagt, damit beschäftigten sich die Konferenzteilnehmer drei Tage lang im Clubhaus der Freien Universität in Dahlem.
In 25 Vorträgen wurde die Tötungsfrage aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Christoph Wulf und Jörg Zirfas, Professor für Pädagogik an der Universität Erlangen-Nürnberg, konnten Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich und Großbritannien als Redner gewinnen: Philosophen, Ethnologen, Psychoanalytiker ebenso wie Erziehungs-, Literatur- und Medienwissenschaftler.
Mörder sind keine Monster
In Deutschland gibt es etwa 900 Mordfälle pro Jahr. „Wir Menschen müssen begreifen, dass die Gewalt eine Seite von uns allen ist“, sagt Wulf. Seine erste direkte Begegnung mit dem Thema Töten hat der Anthropologe in einem US-amerikanischen Gefängnis gemacht, als er einen Vortrag vor 30 Mördern hielt. „Damals merkte ich, dass Mörder nicht Monster sind, sondern ganz normale Menschen. Die meisten Gewaltverbrecher wissen in dem Moment der Tat nicht, was geschieht: ‚Ich weiß gar nicht genau, wie es passiert ist‘, berichten viele.“
Krieg als erlaubte Art des Tötens
Normalerweise gibt es beim Menschen eine große Hemmschwelle, einen anderen umzubringen. Eine Variante des Tötens findet sich im Krieg. Hier wird die Hemmschwelle auf Befehl aufgehoben, indem das Opfer zum Nicht-Menschen erklärt wird. Außerdem kommt es durch die besondere Art der Gemeinschaft, in der sich die Soldaten im Kriegsfall befinden, zu einer Gruppensolidarität. Die Verantwortung für die Tat kann scheinbar abgegeben werden.
In der Ausbildung werden Soldaten zu Gehorsam und Disziplin erzogen, so dass sie Befehle befolgen, ohne an ihr Gewissen zu denken. Erleichtert wird der Akt des Tötens zudem durch die moderne Kriegsführung, die technisiert abläuft und dadurch eine Distanz schafft: Per Knopfdruck werden Raketen abgefeuert und Atomwaffen gezündet. Das Töten wird funktionalisiert.
Die andere Seite des Menschen
Das Phänomen Töten lässt sich in vielen Bereichen finden, es wird von den Medien, der Kunst, in Filmen und in Büchern thematisiert. Krimis sind in der Literatur und im Fernsehen sehr beliebt: Jeden Sonntagabend erfreut sich der „Tatort“ vieler Zuschauer. „Diese andere Seite des Menschen fasziniert uns“, sagt Wulf, „die Erkenntnis, dass der Wahnsinn immer ein Teil des Menschen ist.“
Für die Forschung ist es aufschlussreich zu untersuchen, wie Menschen töten und welche Gefühle dabei entstehen. Mit der Tagung wurden die historischen, kulturellen, politischen, institutionellen und auch sozialen Hintergründe beleuchtet, die diese Emotionen bestimmen. Die Vorträge der Konferenz werden in diesem Frühsommer in der Zeitschrift „Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie“ erscheinen, die im Akademie Verlag oder über die Gesellschaft für Historische Anthropologie bestellt werden kann.