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„Wer sensibilisiert ist, nimmt Situationen anders wahr“

Interviewreihe zum Code of Conduct der Freien Universität Berlin – Teil 1: Claudia Calvano und Jens Rolff

12.12.2025

Der Code of Conduct formuliert, basierend auf bereits bestehenden Richtlinien und Satzungen, gemeinsame Werte und verbindliche Standards für ein respektvolles, wertschätzendes Miteinander für alle Mitglieder und Gäste der Freien Universität Berlin.

Der Code of Conduct formuliert, basierend auf bereits bestehenden Richtlinien und Satzungen, gemeinsame Werte und verbindliche Standards für ein respektvolles, wertschätzendes Miteinander für alle Mitglieder und Gäste der Freien Universität Berlin.
Bildquelle: Freie Universität Berlin

Was steht im Code of Conduct? Und wofür braucht die Freie Universität ein solches Regelwerk? In einer dreiteiligen Interviewreihe bitten wir Mitglieder der Universität, sich aus ihrer jeweiligen Position und Perspektive zu Aspekten des Codes zu äußern. Den Auftakt machen Psychologieprofessorin Claudia Calvano und Biologieprofessor Jens Rolff. Ein Gespräch über das Bewusstsein der eigenen Rolle, Fortbildungen und die Angst vor Nachteilen.

Frau Professorin Calvano, Herr Professor Rolff, was kann der Code of Conduct der Freien Universität im Hinblick auf respektvolles Miteinander und den Abbau von Diskriminierung leisten?

Prof. Dr. Jens Rolff ist Professor für Evolutionsbiologie an der Freien Universität Berlin

Prof. Dr. Jens Rolff ist Professor für Evolutionsbiologie an der Freien Universität Berlin
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Jens Rolff: Der Code of Conduct gibt allen, die an der Freien Universität studieren oder arbeiten, eine klare Orientierung. Er macht deutlich, dass wir aufeinander achten und eine Umgebung schaffen wollen, in der sich möglichst alle Menschen wohl- und sicher fühlen. In meiner Arbeitsgruppe nutzen wir ihn in der Erstsemesterlehre und bei der Begrüßung neuer Kolleg*innen. So schärfen wir von Beginn an das Bewusstsein für respektvollen Umgang und für Diskriminierung.

Claudia Calvano: Entscheidend ist, dass der Code sichtbar ist und gelebt wird. Es reicht nicht, ein Papier ins Netz zu stellen. Er muss bei Einführungen, in Lehrveranstaltungen und in den unterschiedlichen Teams immer wieder aufgegriffen werden.

Prof. Dr. Jens Rolff vom Fachbereich Biologie, Chemie, Pharmazie wurde kürzlich mit dem dort erstmals verliehenen Preis für diversitätssensible Lehre ausgezeichnet. 

Prof. Dr. Claudia Calvano, Klinische Kinder- und Jugendpsychologie und -psychotherapie und Hochschulambulanz für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, entwickelt im Projekt „BuildingBridges – Mentoring and Empowering Girls and FLINTA of Colour to Participation, Achievement and Resilience" mit ihrem Team ein Empowerment- und Mentoringprogramm für Mädchen* und FLINTA of Colour zur Förderung akademischer Berufswege im psychosozialen Bereich durch Stärkung intrapsychischer Resilienzfaktoren und Leistungspotenziale. 
Claudia Calvano ist Professorin am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie und leitet den Arbeitsbereich Klinische Kinder- und Jugendpsychologie und -psychotherapie.

Claudia Calvano ist Professorin am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie und leitet den Arbeitsbereich Klinische Kinder- und Jugendpsychologie und -psychotherapie.
Bildquelle: Joscha Kirchknopf

Was kann ein Code of Conduct nicht leisten?

Calvano: Nur weil ein Code of Conduct existiert, heißt es nicht, dass sich alle daran halten. Der Code ist ein wichtiger Startpunkt und schafft eine gemeinsame Werte-Grundlage. Ob er wirklich umgesetzt wird, wird sich im Alltag zeigen.

Rolff: Gleichzeitig ist er ein Anker. Viele Menschen kommen aus sehr unterschiedlichen Bildungssystemen und Ländern und wissen nicht, welche Standards, Rechte und Unterstützungsangebote es an der Freien Universität gibt. Auf der Code-of-Conduct-Seite finden Personen Leitlinien und Hinweise auf Beratungs- und Beschwerdestellen.

Die Freie Universität möchte ein „diskriminierungsarmer Campus“ sein. Gelingt ihr das?

Calvano: Das hängt davon ab, wie man „diskriminierungsarm“ definiert und misst. Was ich sehe, ist eine wachsende Aufmerksamkeit: Es gibt eine Stabsstelle, verschiedene Programme zum Abbau von Diskriminierung und geplante Antidiskriminierungsprojekte. Diskriminierung wird also benannt, Betroffene können Ansprechpersonen finden. Ob man daraus schon das Label „diskriminierungsarm“ ableiten kann, wage ich zu bezweifeln.

Wie schafft die Universität eine „inklusive, diversitätssensible Lehr-, Lern-, Arbeits- und Forschungsumgebung”, so wie es im Code verankert ist?

Calvano: Ein zentraler Baustein sind Fortbildungen. Viele Lehrende und Mitarbeitende wollen wissen, wie sie Gender und Diversity in Lehrveranstaltungen oder im Team berücksichtigen können. Für sie gibt es Schulungen und Materialien. Wichtig sind außerdem niedrigschwellige Anlaufstellen wie psychologische Beratung und Supportpoints. Dort können auch Menschen Hilfe suchen, die Diskriminierung durch Vorgesetzte erlebt haben. Eine Herausforderung ist jedoch das Vertrauen: Wer institutionell diskriminiert wurde, zweifelt oft daran, ob ausgerechnet dieselbe Institution der richtige Ort für Unterstützung ist.

Rolff: Für Beschäftigte gibt es etwa den Personalrat, dazu die Antidiskriminierungsstelle, die Schwerbehindertenvertretung, Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte sowie Ombudspersonen für gute wissenschaftliche Praxis. Ein strukturelles Problem bleibt die Angst vor Nachteilen, wenn man sich beschwert, zum Beispiel, wenn man gerade eine Abschlussarbeit schreibt. Anonyme Hinweise helfen zwar, reichen aber oft nicht, um Konsequenzen durchzusetzen.

Was kann jede einzelne Person beitragen, damit der Anspruch eines diskriminierungsarmen Campus Realität wird?

Rolff: Zunächst gilt es, die eigene Aufmerksamkeit zu schärfen. Wer sensibilisiert ist, nimmt Situationen anders wahr und kann im Notfall eingreifen, Betroffene unterstützen oder Hilfe holen. Wer also mit Wissen und offenen Augen über den Campus geht, kann viel dazu beitragen, Diskriminierung zu verringern.

Calvano: Und es braucht Selbstreflexion. Welche Position habe ich in der Universität, welche Privilegien, welche blinden Flecken? Wer sich dieser Rolle bewusst ist, kann Diskriminierung eher erkennen, ansprechen und Schritt für Schritt zu einer inklusiveren Hochschulkultur beitragen.

Die Fragen stellte Christopher Ferner