Die neue globale Unordnung
Federica Mogherini und Joschka Fischer diskutierten an der Freien Universität Berlin über das Ende des Multilateralismus und die Schwäche der EU
11.11.2025
Federica Mogherini und Joschka Fischer am 7. November 2025 im Foyer des Henry-Ford-Baus der Freien Universität Berlin. Die Politikerin und der Politiker hielten die erste Europaeum Annual Lecture.
Bildquelle: Gareth Harmer
Die ehemalige Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik Federica Mogherini und der ehemalige Außenminister Deutschlands Joschka Fischer bestritten die erste „Europaeum Annual Lecture“ an der Freien Universität. Unter der Überschrift „The new global disorder: Europe’s future in a fracturing world“ entfalteten sie eine düstere Zeitdiagnose, die sie als Weckruf an die Europäische Union richteten. Die Europaeum Annual Lecture ist eine neu eingerichtete Veranstaltungsreihe des Europaeums, ein Netzwerk von 17 Universitäten unter der Leitung der Oxford University, dem die Freie Universität 2019 beigetreten ist. Die Professorin für Politikwissenschaft Tanja Börzel moderierte die Veranstaltung, Vizepräsidentin Professorin Petra Knaus hielt ein Grußwort.
In seinen Gefängnisheften, die der italienische Philosoph Antonio Gramsci während seiner Zeit als politischer Gefangener der italienischen Faschisten verfasst hat, notierte er, dass es „nüchterne Menschen“ brauche, „die angesichts der schlimmsten Schrecken nicht verzweifeln“, bevor er sein berühmtes Diktum anschloss: „Pessimismus der Vernunft, Optimismus des Willens“.
Die erste Europaeum Annual Lecture, die die vormalige italienische Außenministerin und Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik Federica Mogherini am 7. November im Beisein des ehemaligen deutschen Außenministers Joschka Fischer an der Freien Universität hielt, glich einer mehrstimmigen Übung in Nüchternheit vor dem Schrecken, und in Pessimismus der Vernunft. Man könnte hinzufügen: im Pessimismus der Erfahrung. Nur der Optimismus des Willens blieb verhalten und auf vereinzelte Appelle beschränkt.
Federica Mogherini, Rektorin des College of Europe in Brügge, war eingeladen, um die erste Annual Lecture des Netzwerks Europaeum zu halten. Titel des Vortrages von Mogherini, auf den dann Joschka Fischer antwortete: „The new global disorder: Europe’s future in a fracturing world“.
Nur ein Quentchen Optimismus: Federica Mogherini war von 2014 bis 2019 Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, zuvor von Februar bis Oktober 2014 Außenministerin Italiens.
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Mogherini betonte, dass sie eigentlich vom Naturell her zu Optimismus neige, aber dass es ihr in der gegenwärtigen Weltlage immer schwerer falle, optimistisch zu bleiben. Warum? Weil sich eine Krise an die nächste anschließe und sich alles balle: die Finanzkrise, die immer noch nachwirkt, die Klimakrise, die ihre Schatten vorauswirft, globale Fluchtbewegungen, die zunehmen, die Corona-Pandemie, die nicht die letzte ihrer Art sein wird, und schließlich zwei geopolitische Krisen, die die internationale Ordnung bedrohen: der Einzug von Donald Trump ins Weiße Haus und der russische Angriff auf die Ukraine.
Mogherini gestand zu, dass es in Europa auch in der Vergangenheit immer wieder blutige, schreckliche Kriege gegeben habe, etwa im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahren. Der Ukrainekrieg sei in ihren Augen dennoch besonders: Weil er von einem ständigen Mitglied des UN-Sicherheitsrats begonnen wurde, das als solches eigentlich verpflichtet sei, sich für den Frieden einzusetzen. Und weil der Krieg von Russland mit dem erklärten Ziel geführt werde, Staatsgrenzen zu verschieben und die Geschichte in einer vermeintlichen Einflusszone zurückzudrehen.
Deshalb sei nicht nur die Ukraine das Opfer dieses Krieges, nicht nur der Frieden in Europa, sondern auch die internationale Ordnung als solche. Dem möglichen Einwand, dass mit den USA auch andere ständige Mitglieder gleich eine ganze Reihe von Kriegen vom Zaun gebrochen hätten, begegnete Mogherini mit der Bemerkung: Gewiss, aber die USA hätten nicht versucht, ihre Nachbarstaaten zu unterwerfen, und sie hätten wenigstens versucht, einen Anschein internationaler Legitimität zu erzeugen.
Joschka Fischer, von 1998 bis 2005 Bundesaußenminister und Vizekanzler, sieht die Weltlage düster und die der Europäischen Union kritisch.
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Der eigentliche Grund für ihren, Mogherinis, Pessimismus, aber liege nicht in diesen Herausforderungen und Krisen: Nein, er komme daher, dass in eben dem Moment, wo es auf globale Herausforderungen auch globale Antworten bräuchte, genau jene Institutionen und Mechanismen gestört und bedroht sind, die solche Antworten geben könnten: die globale regelbasierte Ordnung des Multilateralismus.
Die schwächele nicht nur, sie werde von den Staatenlenkern im Weißen Haus und im Kreml gleichermaßen bewusst zum Feind erklärt und absichtlich zerstört. Was zur Folge habe, dass nicht nur der Multilateralismus, die regelbasierte Ordnung bedroht sei, sondern auch die Institutionen, die sie aufrecht zu erhalten versuchen, allen voran die Europäische Union.
Man muss sich Mogherini zufolge unsere Gegenwart als ein Ringen um die Ordnung der Welt vorstellen: zwischen denen, die das Recht des Stärkeren durchsetzen wollen, und denen, die eine regelbasierte, multilaterale globale Ordnung retten wollen. Man hätte an dieser Stelle gerne nachgefragt, ob ein Zyniker in diesem Widerstreit nicht auch zweierlei Interessen am Werk sehen könnte: und nicht reinen Egoismus auf Seiten Trumps und Putins, und uneigennützigen, wertegeleiteten Liberalismus in Europa.
In jedem Fall begründete Federica Mogherini mit ihrer einigermaßen düsteren Gegenwartsdiagnose nachvollziehbar, woraus ihr Pessimismus sich speist. Und gab dann dem Optimismus des Willens doch ein klein bisschen Raum: Denn die EU habe mehrfach bewiesen, dass sie in Krisenzeiten über sich hinauswachsen könne. Etwa in der Corona-Pandemie, als die EU innerhalb weniger Wochen auf die Beine stellte, was noch kurz zuvor unmöglich erschien, wie die gemeinsame Impfstoffbeschaffung oder die gemeinsame Schuldenaufnahme.
Joschka Fischer: „Ich stimme Ihnen zu, aber Sie sind immer noch zu optimistisch.“
Politikwissenschaftsprofessorin Dr. Tanja Börzel (Mitte) moderierte die Diskussion zwischen Federica Mogherini und Joschka Fischer.
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Auch nach dem Brexit-Referendum 2016 in Großbritannien hätten viele die EU angezählt, aber auch damals hätte sie sich aufgerappelt und als schlagkräftiger erwiesen, als man dachte. Deshalb setze sie, Mogherini, auch jetzt auf die EU: Die müsse sich allerdings wappnen, und gleich mehrere gute Ratschläge befolgen.
Erstens: Sich für das Worst-Case-Szenario vorbereiten, was übersetzt heißt: in die eigene Sicherheit und Verteidigung investieren, weil man sich auf die USA nicht mehr verlassen kann. Zweitens: die eigene Wirtschaft fit machen, so wie das der ehemalige EZB-Chef Mario Draghi in seinem Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit vorgeschlagen hat. Um in Bereichen selbstständig zu werden, in denen man heute von den USA oder China abhängig ist, also etwa der Chip-Produktion oder der Künstlichen Intelligenz. Drittens müssten die Gesellschaften der EU selbst widerstandsfähiger werden, resilienter, und immun gegen Desinformation.
Als der ehemalige Außenminister Joschka Fischer an der Reihe war, um auf Federica Mogherinis zugleich klarsichtige und düstere Ausführungen zu antworten, sagte er gleich zu Beginn: „Ich stimme Ihnen zu, aber Sie sind immer noch zu optimistisch.“
Denn in Fischers Augen steht Europa nicht nur geopolitisch unter Druck und muss nicht nur mit der Klimakrise fertig werden, sondern sieht sich zugleich mit gigantischen ökonomischen Herausforderungen konfrontiert: China sei dabei, sich zur wirtschaftlichen Supermacht aufzuschwingen, die Europa abhängt und von der Europa zunehmend abhängig sein werde. So wie Europa auf der anderen Seite von Big Tech in den USA abhinge und überhaupt technologisch, ökonomisch und in Sachen Handel immer weiter zurückfalle.
Gut besucht: Die erste Europaeum Annual Lecture im Henry-Ford-Bau der Freien Universität Berlin stieß auf großes Interesse.
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Auch teile er, Joschka Fischer, nicht Mogherinis zarten Optimismus in Sachen Europa. Im Gegenteil: Europa sei gespalten und schlechterdings nicht im Stande, eine gemeinsame politische Antwort zu finden und eine eigene geopolitische Vision zu entwickeln. Denn eine Bedrohung habe Mogherini nicht angesprochen: das Erstarken des Nationalismus in Europa. Wenn in Frankreich die extreme Rechte an die Macht kommt, was ja schon bald passieren kann, dann sei die deutsch-französische Achse, der Motor der Europäischen Union, endgültig am Ende.
In einem Satz: Die alte Ordnung wird nicht zurückkommen, auf die USA, „unseren Befreier und Beschützer“, ist kein Verlass mehr, Europa ist nicht bereit und nicht gerüstet für diese Herausforderung. Im Gegenteil, sagte Fischer, mit dem ihm eigenen Sarkasmus: Europa sei reich, alt und schwach, keine gute Kombination, sondern eher ein Risikofaktor. Europa müsse seine Werte verteidigen, auch wenn es nun alleine dastehe und nicht die Macht habe, das zu tun. Denn Macht brauche Einigkeit, von der die Europäer aber weit entfernt seien.
Den eigenen Kassandra-Ruf ergänzte Fischer noch damit, dass er zu verstehen gab, von der derzeitigen deutschen Regierung und ihrem Kanzler nicht allzu viel zu erwarten. Jedenfalls nicht jenen neuen europäischen oder sogar globalen Gründergeist, den es eigentlich brauche, um eine neue internationale Ordnung zu entwerfen.
Worauf Federica Mogherini noch einmal mit einem Quentchen Optimismus gegensteuerte: Ja, die alte globale Ordnung sei Geschichte, weil ihre Regeln nicht länger zu den realen Machtverhältnissen passten. Also müssten sie notgedrungen neu geschrieben und neu verhandelt werden. Aber möglicherweise gebe es ja Partner dafür, jenseits von Washington und Moskau, etwa im globalen Süden. Und vielleicht habe ja auch die kommende Supermacht China ein Interesse daran, gemeinsam und auf friedlichem Wege, die Regeln der „global governance“ neu zu schreiben.
Mit Gramsci gesprochen blitzte hier fast schon jene neue Welt auf, die darum ringt, geboren zu werden: „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue zeichnet sich noch nicht ab. Es ist die Zeit der Ungeheuer.“





