„Das Universitätsleben läuft auch unter Extrembedingungen weiter“
Auf Dienstreise in der Ukraine: Interview mit Tobias Stüdemann, Leiter des Verbindungsbüros Osteuropa
27.10.2025
Tobias Stüdemann leitet das Verbindungsbüro Osteuropa der Freien Universität Berlin in Tbilissi, Georgien. Gemeinsam mit Julia Kobzar, promovierte Germanistin und Projektkoordinatorin der Germanistischen Institutspartnerschaft mit drei ukrainischen Universitäten an der Freien Universität, reiste er vor kurzem in die Ukraine. Die engen Kooperationen mit den ukrainischen Partnerhochschulen möchte er in Zukunft weiter intensivieren.
Herr Stüdemann, was war der Anlass dieser Ukraine-Reise?
Tobias Stüdemann: Die Freie Universität pflegt über das Erasmus+-Programm sowie zahlreiche Forschungskooperationen enge Verbindungen mit der Ukraine. Viele Studierende und Forschende ukrainischer Universitäten kommen zu uns, ebenso wie Mitarbeitende aus der Verwaltung.
Diese Verbindung wollen wir pflegen und weiterentwickeln. Ich bin der Überzeugung, dass man dazu selbst vor Ort sein und sich ein persönliches Bild machen muss. Kontakte und Ideen bekommt man nicht, indem man aus der Ferne Berichte liest, dazu braucht es den direkten Austausch. Von daher war es seit langer Zeit mein Anliegen, in die Ukraine zu reisen. Wir sind unserer Arbeitgeberin sehr dankbar, dass sie diesen Besuch möglich gemacht hat. Wir waren eine der ganz wenigen Delegationen aus Deutschland, die das Land seit dem russischen Angriff im Jahr 2022 offiziell besucht haben.
Andere wagen sich nicht dorthin?
Viele Kolleginnen und Kollegen von Hochschulen, Bildungs- und Kultureinrichtungen würden sehr gerne, dürfen aber nicht. Auf diplomatischer Ebene und in Regierungskreisen gibt es natürlich Besuche, über die ja auch immer wieder die Medien berichten. Doch davon abgesehen genehmigen Arbeitgeber ihren Mitarbeitenden in der Regel keine Dienstreisen in die Ukraine.
Zur 150-Jahr-Feier überreichte T. Stüdemann dem Rektor der Universität Tscherniwzi ein Glückwunschschreiben vom Präsidenten der Freien Universität Berlin. V.l.: S. Lukaniuk, J. Kobzar, T. Stüdemann, Rektor R. Biloskurskyi, Vize-Rektorin I. Osovska
Bildquelle: Julia Kobzar
Ich kenne einige, die auf eigene Faust fahren: Sie nehmen Urlaub, um auf eigene Kosten – und eigenes Risiko – an fachbezogenen Veranstaltungen in der Ukraine teilzunehmen, nicht nur um persönliche Kontakte zu pflegen.
Ich halte das aus institutioneller Sicht für keine gute Lösung. Für mich war von Anfang an klar, dass ich den Besuch als offizielle Dienstreise gestalten möchte. Die Freie Universität hat das dann sehr unkompliziert möglich gemacht. Ich hoffe, dass dieses Beispiel Schule macht. Es wäre ein wichtiges Zeichen der Solidarität, dass deutsche Institutionen ihre Mitarbeitenden offiziell zu ukrainischen Partnern reisen lassen.
Welche Stationen haben Sie absolviert?
Wir waren zunächst in Tscherniwzi, einer Kleinstadt nahe der rumänischen und moldawischen Grenze. Dort nahmen Julia und ich an der Tagung des ukrainischen Deutschlehrer- und Germanistenverbandes teil. Anschließend waren wir vier Tage in Kyjiw, wo wir zu Gast an der Nationalen Taras-Shevchenko-Universität waren, einer der bedeutendsten Hochschulen des Landes. Wir haben außerdem die Kyiv School of Economics und die Nationale Universität Kyjiw-Mohyla-Akademie besucht. Zum Abschluss waren wir noch zwei Tage in Lwiw an der Ivan-Franko-Universität.
Julia Kobzar, die selbst aus der Ukraine stammt und die Situation dort bestens kennt, hat die Logistik der Reise in die Hand genommen und alles perfekt organisiert. Gereist sind wir vor allem mit dem Zug, der zuverlässig fährt, aber für die Zahl der im Land Reisenden gibt es zu wenig Züge, sodass es eine Herausforderung ist, ein Ticket zu bekommen. Davon abgesehen konnten wir unser Programm zu meiner großen Überraschung so absolvieren, wie wir es geplant hatten.
Wie ist die Situation an den ukrainischen Universitäten?
Die Hochschulen stehen seit dem russischen Angriff am Rande ihrer Belastbarkeit. Sie stemmen nicht nur die Lehre und Forschung, sondern haben es mit traumatisierten Studierenden zu tun, unterstützen Binnenflüchtlinge und generell Familien, die kriegsbedingt in Not geraten sind. Und all dies vor dem Hintergrund, dass die staatlichen Ausgaben für die universitäre Bildung massiv gekürzt wurden. Zudem bleiben ausländische Studierende weg, die durch ihre Studiengebühren zuvor entscheidend zur Finanzierung beigetragen haben.
Doch auch im Inland gibt es weniger Studierende. Viele junge Menschen sind ins Ausland geflohen, einige sind auch an der Front. Unter diesen Bedingungen übernehmen Professorinnen und Professoren nicht selten einen Zweitjob, um wirtschaftlich über die Runden zu kommen.
Besuch im Museum der Nationalen Taras-Shevchenko-Universität in Kyjiw. Von links: Studierende, die durch die Ausstellung geführt haben, Tobias Stüdemann und Julia Kobzar
Bildquelle: Olena Lysak
Es ist insofern beeindruckend zu sehen, wie gut die Universitäten trotz dieser Schwierigkeiten weiter funktionieren. Alle Menschen, die wir getroffen haben, sind sehr engagiert und halten das universitäre Leben in vollem Gange. Ebenfalls ungebrochen ist der Rückhalt für die Verteidigung des Landes und der Dank, der den Soldatinnen und Soldaten an der Front entgegengebracht wird.
Wie zeigt sich das?
Ich denke da beispielsweise an die Germanistiktagung, an der wir in Tscherniwzi teilgenommen haben. Sie wurde vom Rektor der Universität mit einer Schweigeminute eröffnet – nicht nur im Gedenken an die Gefallenen, sondern ausdrücklich verbunden mit dem Dank für alle an der Front kämpfenden Soldaten, ohne deren Einsatz die Tagung nicht möglich gewesen wäre.
Ich hatte den Eindruck, dass es sich dabei keinesfalls um eine lediglich symbolische Geste handelte. Es war spürbar, wie stark der Krieg im Bewusstsein ist. Ähnliches kann man täglich morgens um 9 Uhr beobachten – dann ruht eine Minute lang der Verkehr: Menschen bleiben stehen, und Autofahrer steigen aus, um ihre Solidarität mit den Kämpfenden zu zeigen. Wir haben mehrfach selber daran teilgenommen.
Ist der Krieg allgegenwärtig?
Ja und nein. Natürlich sind der Krieg und die schwierige politische Lage der Ukraine immer Thema, wenn auch im Westen der Ukraine nicht ständig im Alltag sichtbar. Gleichzeitig haben die Menschen nach mehr als drei Jahren Krieg eine gewisse Routine im Umgang mit der Gefahr und dem Schrecken gewonnen. An der Kyiv School of Economics beispielsweise ist es üblich, dass für jede Veranstaltung zwei Räume reserviert werden: einmal der normale Hörsaal und dann ein Ausweichraum im Bunker, falls es Luftalarm gibt. Die Bunkerräume sind voll ausgestattet, mit Projektoren und Mikros. Es ist für die Studierenden Normalität, dort zu lernen.
Die Menschen sind in gewisser Weise abgebrüht, viel mehr als man erwarten würde. Wenn die Sirenen heulen, bleiben viele Leute im Restaurant entspannt sitzen. Wir bekommen aus der Ukraine oft nur die schrecklichen Geschichten zu hören. Aber das gesellschaftliche Leben läuft in weiten Teilen des Landes mit beeindruckender Normalität weiter. Und wir haben dies innerhalb von wenigen Tagen übernommen – die Strategien, die man sich vorher überlegt hat, wie man im Falle eines Luftalarms reagiert, wurden schnell von der Realität vor Ort korrigiert.
Haben Sie Angriffe miterlebt?
Die Orte, die wir besucht haben, sind viele hunderte Kilometer von der Front entfernt. Zum Glück sind Angriffe dort relativ selten. Ich habe zwar mehrere Luftalarme miterlebt, jedoch keinen Angriff. Meine Kollegin Julia Kobzar musste jedoch einen Raketenangriff miterleben. Sie war physisch immer in Sicherheit. Aber natürlich versetzt einen solch ein Angriff in eine psychische Ausnahmesituation, die nachwirkt.
Wie wird die Kooperation mit den ukrainischen Universitäten weitergehen?
Es gibt eine Reihe von Ideen, wie wir die Kolleginnen und Kollegen in der Ukraine unterstützen können. So ist zum Beispiel bei einem Raketenangriff auf die Taras-Shevchenko-Universität in Kyjiw ein Buchscanner zerstört worden, mit dem historische Bestände digitalisiert wurden. Da besteht konkreter Bedarf, und ich möchte klären, ob wir hier unterstützen können.
Unser langfristiges Ziel ist vor allem, den fachlichen Austausch weiter zu fördern und weitere wissenschaftliche Kooperationen zu initiieren, auch soweit möglich vor Ort. Wir haben auf der Reise vielfältige Kontakte geknüpft. Nun gilt es, diese Menschen direkt mit den entsprechenden Fachbereichen an der Freien Universität zusammenzubringen.
Was den Umgang mit extremen Herausforderungen angeht, können wir von unseren ukrainischen Kolleginnen und Kollegen lernen und werden sie definitiv weiter unterstützen.
Die Fragen stellte Dennis Yücel




