„Die europäische Brille absetzen“
Am 20. Juni wird an der Freien Universität das Dahlem Center for Linguistics gegründet / Interview mit Professor Ferdinand von Mengden
16.06.2025
Die Laut-Buchstaben-Beziehung an einer Grundschule in Tansania: Im Zentrum der Eröffnungsveranstaltung des DCL am 20. Juni stehen afrikanische Sprachen.
Bildquelle: Rachel Chilton / USAID
Die interdisziplinären Forschungsschwerpunkte reichen von Systemlinguistik, Mehrsprachigkeit und Spracherwerb über Sprache in sozialen Kontexten bis hin zu Neurolinguistik. Ein zentrales Anliegen des DCL ist die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses in einem frühen Karrierestadium. Ein Gespräch mit Professor Ferdinand Mengden, Leiter und Sprecher des neuen Centers, über Ziele, sprachliche Diversität und Alleinstellungsmerkmale.
Herr Professor von Mengden, es gab an der Freien Universität 20 Jahre lang das „Interdisziplinäre Zentrum Europäische Sprachen“ (iZEUS). Warum wird nun das neue Dahlem Center for Linguistics gegründet?
Professor Ferdinand von Mengden, Leiter und Sprecher des neuen Centers for Linguistics (DCL).
Bildquelle: Privat
Es gibt einige Gründe dafür, die teilweise auch etwas mit veränderten Organisationsformen an der Freien Universität zu tun haben. Der wichtigste Grund aber ist wohl, dass sich unsere eigenen Schwerpunkte geändert haben und dass die Zuschreibung „europäisch“ in der Linguistik nicht mehr so gut funktioniert: Sprachen wie Englisch oder Spanisch sind heute weitgehend außereuropäische Sprachen.
Und viele Phänomene, mit denen sich die Sprachwissenschaft heute befasst, sind gar nicht territorial zu begreifen. Viele Sprachpraktiken und für die linguistische Forschung interessante Phänomene lassen sich eher in Dimensionen wie „global“ vs. „praxisspezifisch“, „urban“ bzw. „kosmopolitisch“ vs. „lokal“ o. ä. erfassen.
Was wird das neue Dahlem Center for Linguistics auszeichnen?
Es geht darum, einer Wissenschaftsdisziplin, die durch die Strukturierung in einzelsprachliche Philologien auf viele Institute verteilt ist, ein institutionelles Dach zu geben: Neben den linguistischen Arbeitsbereichen am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften, die sich über Romanistik, Anglistik, Germanistik und Niederlandistik verteilen, gibt es auch an anderen Fachbereichen Arbeitsbereiche bzw. einzelne Forschende, die sich mit Linguistik beschäftigen.
Das neue Dahlem Center for Linguistics ist dezidiert fachbereichsübergreifend angelegt, sodass die Integration all dieser Arbeitsbereiche nun leichter ist.
Insbesondere werden dadurch auch Kolleg*innen aus der Pädagogik (Forschung zu Spracherwerb) sowie den Geschichts- und Kulturwissenschaften (semitische Sprachen, Iranistik, Turkologie, u. a., aber auch Wissenschaftsgeschichte) Mitglieder des DCL sein. Mit diesen Kolleg*innen stehen wir schon seit Längerem in Kontakt, aber es gab noch keine Möglichkeiten der gemeinsamen institutionellen Anbindung quer zu den administrativen Strukturen über Fachbereiche und Institute.
Was zeichnet die Linguistik an der Freien Universität grundsätzlich aus?
Ein Alleinstellungsmerkmal im Berliner Raum ist sicherlich unser soziolinguistisches Standbein. Es gibt Forschungsprojekte zu sprachlicher Variation, etwa zur Dialektlandschaft in Italien oder zu unterschiedlichen Anrede- und Höflichkeitspraktiken im deutschsprachigen Raum sowie zur Gesprächsanalyse. Vor einiger Zeit ging unser Projekt durch die Medien, in dem Interaktionsmuster von einer Gruppe von Archäolog*innen erfasst und analysiert wurden, während diese eine Steinzeithütte nachbauten. Dann gibt es Projekte, die sich in unterschiedlichen Kontexten (etwa in Namibia oder dem Amazonasgebiet) mit der Koexistenz von mehreren Kolonialsprachen und indigenen Sprachen befassen.
Auch die Bereiche Kognition und Neurolinguistik spielen in der linguistischen Forschung Lehre an der Freien Universität Berlin eine wichtige Rolle. Hier geht es darum, wie Geist und Gehirn tätig sind, wenn wir sprechen. Das ist auch deswegen spannend, weil sich hier natur- und geisteswissenschaftliche Fragestellungen und Methoden sehr schön miteinander verbinden.
Diese Vielfalt spiegelt sich auch in unseren sehr erfolgreichen Studiengängen Sprache und Gesellschaft (BA) und Sprachwissenschaft (MA) wider. Insbesondere Sprache und Gesellschaft hat seit seinem Start eine extrem hohe Nachfrage. Wir könnten das Vielfache an Studierenden aufnehmen, hätten wir die Kapazitäten dafür. Die Studierenden zeigen großen Enthusiasmus, wenn es um aktuelle gesellschaftliche Fragen geht – etwa wie in einem vielsprachigen Raum wie Berlin miteinander sprachlich interagiert wird oder welche sprachlichen und kommunikativen Muster durch neue, computergestützte Kommunikationsformen zu beobachten sind.
Leider ist dieses Potenzial derzeit akut durch die Sparvorgaben des Berliner Senats gefährdet: Nach den im Moment kursierenden Sparplänen besteht die Sorge, dass wir diese Studiengänge nicht werden weiterführen können.
Zum Organisatorischen: Was bleibt vom iZEUS, was ändert sich?
Wir überführen erst einmal die Strukturen und Arbeitsweisen des iZEUS ins neue DCL. Dabei integrieren wir aber schon jetzt die Kolleg*innen, die aus den anderen Fachbereichen dazukommen. Das hießt, wir arbeiten im Moment noch mit der bestehenden inneren Organisationsstruktur weiter: Es gibt eine Mitgliederversammlung, eine Mittelbauvertretung, einen Vorstand, die Koordination der Studiengänge und andere Aufgaben, die im laufenden Betrieb weitergeführt werden müssen. Zu gegebener Zeit wird die Struktur in eine neue Satzung, die noch beschlossen werden muss, überführt.
Aber die neue Organisation im DCL wird sich sicherlich auch auf unsere Arbeit auswirken. Wir werden eine größere und fachlich diversere Wissenschaftler*innen-Gruppe sein. Unsere Sichtweisen und Expertisen werden sich dadurch erweitern, und darauf freuen wir uns!
Werden auch die Dahlem Lectures in Linguistics fortgeführt?
Ja, an dieser Tradition halten wir unbedingt fest: Die linguistische Vorlesungsreihe, zu der wir seit rund 20 Jahren alle zwei Wochen öffentlich einladen und lokale und internationale Linguist*innen vorstellen, soll natürlich weiterlaufen. Die Themen, die in den Dahlem Lectures präsentiert und besprochen werden, werden durch die diversere Expertise noch vielseitiger werden, das wird ein Gewinn für die Universität und die Öffentlichkeit.
In der Eröffnungsveranstaltung des DCL am 20. Juni legen Sie einen Schwerpunkt auf afrikanische Sprachen – warum?
Mit der Eröffnungsveranstaltung möchten wir gleichzeitig Dr. Bert Remijsen von der University of Edinburgh als Gastwissenschaftler an der Freien Universität begrüßen. Er hat das vom European Research Council geförderte Forschungsprojekt „Tonalität in der Morphologie nilotischer Sprachen“ eingeworben, leitet es und hat die Freie Universität als seinen Forschungsstandort ausgewählt.
Nilotische Sprachen werden etwa im Südsudan gesprochen. Tonalität bedeutet, dass zum Beispiel Tonhöhenunterschiede grammatische Funktionen übernehmen, die in verschiedenen europäischen Sprachen durch Wortendungen ausgedruckt werden.
Wir möchten mit der Themensetzung aber auch darauf aufmerksam machen, dass sprachliche Praktiken und sprachliche Vorstellungen außerhalb Europas nicht der westlichen Vorstellung von homogenen Standardsprachen und dazugehörigen „Dialekten“ entsprechen: Das Zusammenleben unterschiedlicher sprachlicher Praktiken funktioniert oft anders als in Europa und unterliegt anderen gesellschaftlichen Wertungen als bei uns.
Um darauf hinzuweisen, muss man nicht unbedingt nach Afrika schauen, aber man kann es. In diesem Sinn ist es jedenfalls hilfreich und erhellend, bei der Erforschung menschlicher Sprache, die europäische Brille immer mal wieder für einen Moment abzusetzen.
Die Fragen stellte Christine Boldt