Seid Menschen
Kolumne des Präsidenten der Freien Universität, Günter M. Ziegler
20.02.2025
80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, fünf Jahre nach Beginn der Corona-Pandemie, drei Jahre nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine: Zu jedem dieser Jahrestage müssen wir nach Einordnung und Aufarbeitung fragen. Die Themen sind aktuell, zentral und werden kontrovers diskutiert, auch jetzt in der Endphase des Bundestagswahlkampfs. Sie sind an der Freien Universität Gegenstand von Forschung und Lehre, sie erfordern eine Positionierung auf wissenschaftlicher Grundlage. Wie betrifft uns das? Was haben wir gelernt?
80 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers in Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 gedachten wir auf dem Campus vor dem Gebäude Ihnestraße 22. Dort verweist die noch neue Dauerausstellung „Wissenschaft und Unrecht“ auf das fatale Wirken des damaligen Kaiser-Wilhelm-Instituts im selben Gebäude, auf direkte Verbindungen nach Auschwitz und auf die nationalsozialistische „Rassenpolitik“, die von dort aus mitentwickelt wurde. Der „Erinnerungsort Ihnestraße“ stellt einzelne Opfer vor – wie auch unsere Gedenkfeier –, er macht sie sichtbar, ohne die Täter zu verschweigen. Was haben wir gelernt, was müssen wir lernen? Auch, dass Wissenschaft immer Verantwortung hat für ihre Wirkungen und Konsequenzen.
Gelernt? Eine starke Lehre aus der Naziherrschaft und der Schoa ist Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Die 103-jährige Holocaust-Überlebende Margot Friedländer, die wir im Sommer 2022 für ihre Erinnerungsarbeit mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet haben, schreibt in ihrer Nachricht an die Freie Universität zum Gedenktag 80 Jahre nach Auschwitz: „In Zeiten wie heute, wo so viel Blut fließt und Gewalt wütet, müsst Ihr die Menschlichkeit bewahren. Betrachtet alle Eure Gegenüber als Menschen. Das Fürchterlichste wird erst möglich, wenn man die Menschen gegenüber entmenschlicht. Aber alle Menschen sind gleich, Blut ist Blut, es gibt kein jüdisches oder christliches oder moslemisches Blut. Deshalb gilt weiter, was ich immer wieder sage, auch für Euch: Behandelt Eure Gegenüber als Menschen. Seid Menschen.“
Ich habe einmal, im November 2015 auf dem World Science Forum in Budapest, Viktor Orbán live gehört, wie er über eine „Flut von Flüchtlingen“ geredet hat, die Europa und besonders Ungarn bedrohe. Inzwischen hat sich der politische Diskurs
in Deutschland so verschoben, dass „die Migranten“ pauschal als Bedrohung und Gefahr gesehen werden, nicht als einzelne Menschen mit Würde, vielleicht mit Fluchterfahrungen, vielleicht mit Traumata, vielleicht mit Recht auf Asyl nach unserem Grundgesetz. Dort ist nicht von der Würde einer Flut die Rede, sondern von der Würde des einzelnen Menschen. An der Freien Universität lernen, lehren, forschen und arbeiten Menschen aus mehr als 130 Ländern. Ihre Vielfalt bereichert uns. Jeder und jede Einzelne bringt viel mit. Manche auch Fluchterfahrungen.