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„Politische Meinungsbildung beginnt beim Dialog: Ich will erfahren, wie der andere tickt“

Ein Interview mit Ali Sahan über Engagement und Debattenkultur – der Jurastudent an der Freien Universität Berlin ist hochschulpolitisch und in verschiedenen Gruppen aktiv

19.12.2024

Ali Sahan studiert im 7. Semester Jura an der Freien Universität.

Ali Sahan studiert im 7. Semester Jura an der Freien Universität.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Ali Sahan ist 22 Jahre alt und studiert im 7. Semester Jura. Er wurde 2002 in Chemnitz geboren und ist iranisch-irakischer Abstammung. In Chemnitz ist er auch aufgewachsen. Schon als Schüler hat er sich eingesetzt: Als stellvertretender Schülerschaftssprecher in seiner Heimatstadt stand er in Kontakt zu verschiedenen Gruppen, auch zur jüdischen Gemeinde, mit der er Gedenkstätten besucht hat. Als Student ist er hochschulpolitisch aktiv. Die Interviewreihe mit Studierenden zur Debattenkultur auf dem Campus und zu studentischem Engagement wird fortgesetzt.

Ali, seit wann engagieren Sie sich an der Freien Universität? Und in welcher Form?

Das hat gleich in der zweiten Woche in meinem ersten Semester angefangen – hier im „Café Tatort“, wo wir gerade sitzen. Da bin ich auf die Mentor*innen und Tutor*innen gestoßen und Vertreter*innen der Fachschaftsinitiative, die uns Erstsemester empfangen haben. Mit offenen Armen aufgenommen, möchte ich sagen  – an Miriam von der Fachschaftsinitiative erinnere ich mich da besonders.

So geht Teamarbeit: Das Café Tatort haben Ali Sahan (l.), Jacqueline Göbel vom Team Tatort und Jubin Araee, Sprecher der Jura-Fachschaft, in Eigeninitiative komplett renoviert.

So geht Teamarbeit: Das Café Tatort haben Ali Sahan (l.), Jacqueline Göbel vom Team Tatort und Jubin Araee, Sprecher der Jura-Fachschaft, in Eigeninitiative komplett renoviert.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Das war eine Gruppe von zugewandten, engagierten Menschen, die breite politische Diskussionen zuließen. Und das ist auch heute noch so im „Café Tatort“: Hier wird offen und respektvoll miteinander diskutiert.

Jetzt bin ich in meinem vierten Studienjahr und hab an verschiedenen Stellen an der Uni mitgewirkt: Ich habe drei erfolgreiche Legislaturen im Studierendenparlament hinter mir; ich war ein Jahr lang Sprecher der Fachschaftsinitiative Jura, jetzt bin ich Mitglied im Fachbereichsrat.

Im Fachbereichsrat sitzen Vertreter*innen aller Statusgruppen, das empfinde ich als große Verantwortung: Da sitze ich als Student an einem Tisch mit Personen aus der Fachbereichsverwaltung, aber auch mit Professorinnen und Professoren, die sonst im Hörsaal vor mir stehen und ihre Vorlesung halten oder mich prüfen. Miteinander an einem Tisch zu sitzen, auf Augenhöhe zu sprechen, zusammenzuarbeiten, bedeutet, noch einmal ganz anders ernst genommen zu werden.

Und konnten Sie an Veränderungen mitwirken?

In all den Gruppen habe ich viel mitbewegen können, sei es für die Uni selbst oder darüber hinaus. Zum Beispiel im Rahmen der Mitgestaltung der Reform des Jura-Studiums durch den Bundesverband Rechtswissenschaftlicher Fachschaften. Da ging es um die Einführung eines Bachelorstudiengangs Rechtswissenschaft neben dem herkömmlichen Studiengang, den man mit einem Staatsexamen abschließt.

Das klingt nach einer Menge Arbeit und kostet viel Zeit. Warum machen Sie das?

Ich empfinde Verantwortung für „meine“ Studierenden, also die, die mich gewählt haben. Sie haben mich wegen meiner Überzeugungen gewählt, die ich auch äußere. In der Fachschaft müssen wir aber alle Stimmen auffangen. Das alles treibt mich an.

Dann gibt es ganz konkret, hier auf dem Campus, viel zu tun, es ist immer etwas los: Mal ist es die aufwendige Neugestaltung und Renovierung des „Café Tatort“, mal die Planung von Veranstaltungen. Da haben wir viel mit der Fachbereichsverwaltung zu tun, das ist überhaupt eine sehr gute Zusammenarbeit: Einmal im Monat gibt es einen Jour fixe von der Fachbereichsverwaltung mit Studierenden. Da kommt alles auf den Tisch, was anliegt.

In den vergangenen zwölf Monaten aber haben mich vor allem die aktuellen politischen Themen beschäftigt, die auch auf dem Campus heiß diskutiert werden: der Krieg in der Ukraine, der Krieg in Gaza.

Wie sehen Sie diese Debatten? Sollten sie auf dem Campus geführt werden? Wenn ja, wie?

Ich sage ganz klar: Der Campus ist und bleibt ein politischer Ort. Es ließe sich nicht mit unserer langen Geschichte des Protests der Studierendenschaft an der Freien Universität vereinbaren, den Campus allein als neutrale staatliche Bildungsinstitution anzusehen. Es wäre auch ein Armutszeugnis, wenn die Geschehnisse weltweit und in unserem Land von der Studierendenschaft unkommentiert gelassen würden.

Aber: Politische Meinungsbildung beginnt beim Dialog. Wenn dieser Dialog an einem gewaltfreien Ort, wie die Universität einer sein sollte, nicht gelingt, weil es Anfeindungen, Hass und Hetze gibt und tatsächliche Gewalt, dann scheitern wir als Gesellschaft gewaltig. Deshalb müssen wir hier auf dem Campus damit anfangen.

Wie können Debatten auf dem Campus gut geführt werden – auch wenn ganz verschiedene Meinungen aufeinanderprallen? Was kann der oder die Einzelne tun?

Erstmal geht es darum, einen Dialog anzustoßen, ein Gespräch überhaupt möglich zu machen. Dafür muss man Räume schaffen. Vor allem aber ist wichtig zu beachten, dass der Gegenüber auch nur ein Mensch ist. Ein Mensch mit eigenen Überzeugungen, weil er bestimmte Erfahrungen gemacht und auf eine bestimmte Art sozialisiert wurde. Das bedeutet, dass man die eigene Meinung nicht absolut setzen darf, sondern zuhören muss. Ich will erfahren, wie der andere tickt.

Es braucht eine vertrauensvolle und offene Kommunikationsbasis, um den anderen Menschen mit Argumenten überhaupt zu erreichen. Genau dafür setze ich mich in meinen Funktionen und Aufgaben am stärksten und aus tiefster Überzeugung ein: Es geht mir immer darum, ein Fundament zu legen für eine vertrauensvolle und offene Kommunikation.

Wie machen Sie das? Können Sie einen konkreten Konflikt beschreiben, den Sie erlebt haben?

Ein Beispiel, durch das ich gelernt habe: In einer Diskussion neulich habe ich mich über die Haltung einer Teilnehmerin geärgert. Ich habe sie danach angesprochen und ihr einen Vorwurf gemacht: dass sie in ihrer privilegierten Situation doch gar keine Probleme hätte.

Das war unberechtigt, wie ich jetzt weiß. Denn sie hat mir erklärt, aus welcher Perspektive, mit welchem Hintergrund sie gesprochen hat. Ich habe verstanden, dass ich nichts von ihr wusste. Durchs Zuhören habe ich es verstanden. Das könnten wir alle mal öfter machen.

Wenn mir gegenüber jemand laut wird oder unsachlich, sage ich etwas zur Art, wie ich mir wünsche, dass das Gespräch geführt werden sollte, ich spreche über Regeln. Dann erst kann es um den Inhalt gehen, um den Punkt, den ich machen möchte. Und ums Zuhören. Manchmal, wenn die Sache zu eskalieren droht, ist es auch nötig, eine ruhige Minute einzulegen, um wieder herunterkommen.

Wie könnte man andere Studierende motivieren, sich ebenfalls hochschulpolitisch zu engagieren?

Aus meiner Sicht liegt das fehlende Engagement nicht nur an den Studierenden. Sondern auch an den Strukturen der studentischen Selbstverwaltung. Die bräuchte eine Reform. So, wie die Strukturen jetzt sind, spüren Studierende ihren Einfluss nicht, fühlen sich nicht wirksam. Die geringe Wahlbeteiligung der Studierenden zur Besetzung hochschulpolitischer Gremien ist beispielsweise ein Problem. Davon profitiert etwa der AStA.

Ich könnte die Liste weiterführen – Fakt ist aber auch: Wenn ich heute über den Campus laufen würde und gezielt Kommiliton*innen nach dem AStA frage, würden neun von zehn antworten: „Was ist der AStA?“.

Aber heute ist mir noch etwas anderes wichtig: Wird in Zeiten von Krieg, Inflation und Energiekrise auch das Engagement knapp? Nein, jetzt müssen wir als Gesellschaft erst recht aufspringen und solidarisch einander helfen. Ich glaube an ein greifbares Morgen, wenn wir alle miteinander anpacken, über unsere Differenzen hinwegsehen und uns gegenseitig als ebenbürtige Menschen ansehen, genauso wie Margot Friedländer bei uns im Henry-Ford-Bau gesagt hat: „Seid Menschen!“.

Die Fragen stellte Christine Boldt