„Es war Forschung im Dienst der Rassenlehre“
Vor Gründung der Freien Universität wurden in einem Institutsgebäude in Berlin-Dahlem rassistische Menschenexperimente durchgeführt. Die Dauerausstellung Erinnerungsort Ihnestraße zeigt die Aufarbeitung der Geschichte
07.11.2024
Stilles Gedenken: Petra Rosenberg, Landesverband Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg, Israel Kaunatjike, Vertreter der Herero in Deutschland, Doron Kiesel, Zentralrat der Juden in Deutschland, und Universitätspräsident Günter M. Ziegler.
Bildquelle: Michael Fahrig
Getrieben von einer rassistischen und menschenverachtenden Ideologie forschten die Mediziner Eugen Fischer und Otmar von Verschuer dort über Humangenetik. Mit ihren Thesen stützten sie die „Rassen“-Lehre des NS-Staates. Sie erstellten Gutachten für sogenannte Abstammungsurkunden und Zwangssterilisationen von Menschen und griffen für ihre Forschung auf Körperteile von in Konzentrations- und Vernichtungslagern Ermordeten zurück.
In den Jahren 2014, 2015 und 2016 waren bei Bauarbeiten auf dem Gelände um das ehemalige KWI-A-Institut menschliche Knochen gefunden worden, die vermutlich auf Opfer kolonialistischer oder nationalsozialistischer Verbrechen zurückgehen.
Die auf dem Universitätsgelände gefunden menschlichen Überreste wurden nach jahrelanger wissenschaftlicher Aufarbeitung und in enger Absprache mit Vertreter*innen der betroffenen Opfergruppen – dem Zentralrat der Juden in Deutschland, dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma sowie der Herero in Deutschland – im März 2023 auf dem Waldfriedhof in Dahlem bestattet. Am Standort Ihnestraße 22 wird die Geschichte des Gebäudes nun in einer umfassenden Dauerausstellung beleuchtet.
„Wir stellen uns unserer Verantwortung"
„Es gibt Untaten, über die kein Gras wächst – und auch kein Gras wachsen darf“, mahnte Günter M. Ziegler, Präsident der Freien Universität, erneut anlässlich der Eröffnung des Erinnerungsorts Ihnestraße. „Wir stellen uns unserer Verantwortung, auch dunkle Kapitel der Vorgeschichte unserer Universität in Dahlem aufzuarbeiten.“ Die Freie Universität Berlin wurde im Dezember 1948 gegründet, das Gebäude Ihnestraße 22 übernahm sie von der Max-Planck-Gesellschaft, der Nachfolgerin der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft.
Auf vier Stockwerken und im Außenraum um die Ihnestraße 22 erzählen nun zwölf Ausstellungsstationen die Geschichte der Wissenschaftler*innen des KWI-A und von Betroffenen. Die Ausstellung ist dabei eingebettet in den gegenwärtigen Lehr- und Forschungsalltag des Otto-Suhr-Instituts für Politikwissenschaft. Wandpaneele und Videostationen verteilen sich auf die Flure, sind neben Büros und Seminarsälen angebracht.
Jahrelange Aufarbeitung der Gebäudegeschichte
„Wir zeigen, wie nah Wissenschaft und Unrecht hier beieinander lagen“, sagt Manuela Bauche. „Das KWI-A war seinerzeit eine international angesehene, gut vernetzte Institution. Doch das schützte nicht vor ethischen Grenzüberschreitungen.“
Die Historikerin Manuela Bauche bei der Ausstellungseröffnung. Sie erläutert den langen Weg der Aufarbeitung.
Bildquelle: Michael Fahrig
Die promovierte Historikerin leitet seit 2019 ein Projekt zur Aufarbeitung der Geschichte der Ihnestraße 22. Die nun eröffnete Ausstellung hat sie mit einem kleinen Team über Jahre konzipiert und vorangetrieben. „Die Wissenschaft stellte sich an diesem Ort in den Dienst einer menschenverachtenden Bevölkerungspolitik“, sagt sie. „Menschen, die als unerwünscht galten, sollten keine Kinder kriegen – oder vernichtet werden.“
Die Ideen der Eugenik, betont Manuela Bauche, ließe sich jedoch nicht auf den Nationalsozialismus begrenzen. „Das KWI-A wurde in der Weimarer Republik, also in einem demokratischen Staat gegründet“, sagt sie. „Und die Idee, dass behinderte Menschen am besten gar nicht erst geboren werden sollten, hält sich auch in Teilen unserer heutigen Gesellschaft.“
Studierende und Promovierende haben sich nachdrücklich eingesetzt für die Erinnerung
Dass der Erinnerungsort Ihnestraße entstehen konnte, ist auch dem langwierigen Engagement von Studierenden und Promovierenden zu verdanken. Bereits in den 1980er Jahren engagierten sich kritische Dozierende gegen Widerstände in der Max-Planck-Gesellschaft und Universität für eine Gedenktafel, wobei es auch schon damals die Idee einer Dauerausstellung gab.
1988 wurde die noch heute bestehende Bronzetafel am Haupteingang des Gebäudes installiert. Jahrzehntelang blieb sie der einzige sichtbare Hinweis auf die Geschichte des Ortes – bis es in den 2010er-Jahren Studierende des OSI waren, die die Initiative ergriffen. „Wir waren der Überzeugung, dass eine einzige Tafel den Geschehnissen nicht gerecht wird“, sagt der ehemalige Student Thiago Pinto Barbosa, der heute an der Universität Leipzig forscht. „Wir regten eine Dauerausstellung an, die Idee war bereits in den 1980er-Jahren aufgekommen.“
Dieses Mal griff die Universitätsleitung das Anliegen auf – und das Konzept einer Dauerausstellung wurde nach umfangreichen Recherchen und Vorarbeiten und einer pandemiebedingten Verzögerung realisiert.
Betroffenen einen Namen und ein Gesicht geben
„Es ist ein zentraler Aspekt der Ausstellung, dass wir nicht nur die Geschichte der Täter*innen aufarbeiten“, sagt Manuela Bauche, „sondern vor allem den Betroffenen einen Namen und ein Gesicht geben.“
Es sind Geschichten wie die der Familie Mechau, Sinti*zze aus Oldenburg, die Opfer der Forschung am Institut wurden. Mindestens fünf Erwachsene und neun Kinder der Familie wurden in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert, wo sie Teil der Experimente einer KWI-A-Mitarbeiterin wurden. Fast alle wurden anschließend ermordet.
Es sind Geschichten wie die von Hildegard B., einer jungen Frau, die in Armut und Gewalt aufwuchs, und der im Alter von zwölf Jahren „angeborener Schwachsinn“ attestiert wurde. Forschende des KWI-A ließen auch sie untersuchen, später wurde sie zwangssterilisiert und mit hoher Wahrscheinlichkeit ermordet.
Ein Ort der Trauer, ein Ort gegen das Vergessen und für Wachsamkeit
Auch die koloniale Vergangenheit der Forschungsarbeit an der Ihnestraße wird in der Ausstellung beleuchtet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte das Deutsche Reich im heutigen Namibia einen Völkermord an den Herero und Nama verübt – Knochen und Schädel von Menschen landeten als Exponate und Forschungsobjekte landesweit in vielen wissenschaftlichen Institutionen, wo sie teilweise bis heute vorzufinden sind. Am KWI-A wurden derartige Gebeine untersucht und später vermutlich heimlich auf dem Gelände vergraben, um sie verschwinden zu lassen.
„Für mich ist dieser Ort ein Ort der Trauer, denn ich denke an meine Vorfahren, deren Knochen noch immer in einigen Sammlungen liegen“, sagt Israel Kaunatjike, selbst Herero und Vertreter der Herero in Deutschland, der seit mehr als 30 Jahren für die Aufarbeitung des Völkermordes kämpft. „Doch es freut mich, dass wir diese Geschichte sichtbar machen, nicht vergessen, und hoffentlich wachsam bleiben gegenüber allen Formen des Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus.“