Wissenschaft und Unrecht
Neuer Erinnerungsort an der Freien Universität: Am 15. Oktober öffnet auf dem Campus in Berlin-Dahlem eine Dauerausstellung
04.10.2024
Agnes W. wuchs in Berlin in armen Verhältnissen auf und konnte nur wenige Jahre die Schule besuchen. Im Jahr 1935 attestierte ihr ein Arzt, sie leide an „angeborenem Schwachsinn“ – mit dieser Diagnose wurden Menschen, deren Verhalten und Bildung von den Nationalsozialisten als nicht der Norm entsprechend stigmatisiert und für krank und behindert erklärt. Im November 1936 wurde die 42-jährige alleinerziehende Mutter dreier Kinder gegen ihren Willen sterilisiert.
Der Berliner Sinto Otto Rosenberg wurde am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI-A) von der „Rassenforscherin“ Eva Justin untersucht, die mit ihren Arbeiten zur massenhaften Deportation und Ermordung von Sinti und Sintizze sowie Roma und Romnja beitrug. Im April 1943 wurde Otto Rosenberg mit seiner Familie in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Als einer der wenigen in seiner Familie überlebte er den Genozid.
Zwei Namen, zwei Leidensgeschichten, die exemplarisch für Menschen stehen, denen im Zusammenhang mit wissenschaftlicher Forschung am KWI-A Unrecht getan wurde. Die Biografien von Agnes W., Otto Rosenberg und anderen Betroffenen wurden in den vergangenen Jahren an der Freien Universität im Rahmen des Projekts „Geschichte der Ihnestraße 22“ am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft aufgearbeitet und sind vom 15. Oktober an in der Dauerausstellung „Erinnerungsort Ihnestraße – Wissenschaft und Unrecht“ am historischen Ort nachzulesen.
Forschende legimitierten die NS-Verfolgungspolitik
Das KWI-A, das von 1927 bis 1945 in der Ihnestraße 22 in Berlin-Dahlem untergebracht war, spielte bereits in der Weimarer Republik eine zentrale Rolle bei der Verbreitung eugenischer Theorien, die unter der nationalsozialistischen Herrschaft zu menschenverachtenden Taten führten. Forschende des Instituts unterstützten aktiv die rassistische und antisemitische Ideologie des Nationalsozialismus; sie nutzten ihre Forschung, um die Verfolgungs- und Vernichtungspolitik gegen jüdische, behinderte und andere marginalisierte Bevölkerungsgruppen zu legitimieren.
Die Kaiser-Wilhelm-Institute gehörten zur Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, der Vorgängerin der heutigen Max-Planck-Gesellschaft mit ihren gleichnamigen Instituten. Das damalige KWI-Gebäude Ihnestraße 22 gehört heute zum Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der 1948 gegründeten Freien Universität. Zwischen 2015 und 2022 waren bei Bauarbeiten rund um das Gebäude und bei anschließenden archäologischen Grabungen etwa 16.000 stark fragmentierte menschliche Überreste entdeckt worden, die mutmaßlich zum Teil von Opfern nationalsozialistischer und kolonialer Verbrechen stammten. Sie wurden nach wissenschaftlichen Untersuchungen im März 2023 im Beisein von Opfergruppen würdevoll auf dem Waldfriedhof Dahlem beigesetzt.Zwölf Stationen auf vier Stockwerken
„Mit dem Erinnerungsort Ihnestraße setzen wir die jahrzehntealten Forderungen um, das Gebäude, das heute von der Freien Universität genutzt wird, als sensiblen Ort sichtbar zu machen“, sagt die promovierte Historikerin Manuela Bauche, die die Dauerausstellung konzipiert hat und leitet. In zwölf Stationen auf vier Stockwerken und dem Außengelände des Gebäudes wird von der problematischen Forschungspraxis des KWI-A erzählt sowie von ausgewählten Opfern und deren Familien. Historische Dokumente und Fotos illustrieren die Erläuterungen, Video-Interviews mit Expertinnen und Experten vertiefen einzelne Themen. Die Ausstellung ist zweisprachig auf Deutsch und Englisch gehalten, auf der begleitenden Internetseite sowie in der Ausstellung gibt es zudem Erläuterungen in Leichter Sprache.
Der Präsident der Freien Universität Berlin, Professor Günter M. Ziegler, betont: „Die Freie Universität Berlin macht mit der Ausstellung einen Ort sichtbar, an dem verbrecherische Forschung mit menschenverachtenden Prämissen betrieben wurde. Diese Sichtbarmachung hält uns dazu an, stets auch die ethische Verantwortung innerhalb von Forschungsprozessen zu reflektieren.“
Weitere Informationen
Bitte beachten Sie: Die Anmeldung zur Eröffnungsveranstaltung des Erinnerungsortes Ihnestraße 22 am Dienstag, 15. Oktober 2024, um 16.30 Uhr im Henry-Ford-Bau musste aufgrund der großen Nachfrage bereits geschlossen werden. Angehörige der Freien Universität sind eingeladen, spontan vorbeizukommen und zu schauen, ob sie im Veranstaltungsraum einen Platz finden. Wir bitten um Verständnis.
Auf den Podien sind Vertreterinnen und Vertreter des Zentralrats der Juden in Deutschland, des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma, der Herero in Deutschland sowie der AG Bund der Euthanasie-Geschädigten und Zwangssterilisierten.
Die Veranstaltung endet mit einem Übergang auf das Ausstellungsgelände in der Ihnestraße 22, das am Eröffnungstag bis 21 Uhr zugänglich ist. Der Eintritt zur Eröffnung und Dauerausstellung ist kostenfrei.