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Ankerstellen in Berlin

Der Autor und Lyriker Lutz Seiler wurde am 21. September mit dem Berliner Literaturpreis ausgezeichnet und auf die Gastprofessur für deutschsprachige Poetik an der Freien Universität berufen

13.10.2023

Der Schriftsteller Lutz Seiler bei seiner Dankesrede für den Berliner Literaturpreis

Der Schriftsteller Lutz Seiler bei seiner Dankesrede für den Berliner Literaturpreis
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

„Der Literaturpreis ist das eine, aber er ist auch mit einer Aufgabe verbunden, lieber Herr Seiler – das haben Sie sich jetzt aufgehalst“, griff Moderatorin Shelly Kupferberg Lutz Seilers Ernennung zum Gasprofessor auf. Dass man der Freien Universität zu diesem Gastprofessor nur gratulieren könne, sagte Kulturstaatssekretärin Sarah Wedl-Wilson, die den Regierenden Bürgermeister vertrat.

(v.l.n.r) Helmut Böttiger, Prof. Dr. Günter M. Ziegler, Sarah Wedl-Wilson, Lutz Seiler, Dr. Hans Gerhard Hannesen

(v.l.n.r) Helmut Böttiger, Prof. Dr. Günter M. Ziegler, Sarah Wedl-Wilson, Lutz Seiler, Dr. Hans Gerhard Hannesen
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Traditionell findet die Verleihung des Berliner Literaturpreises der Stiftung Preußische Seehandlung im Frühjahr im Roten Rathaus statt. Nur in diesem Jahr war alles anders. Denn anlässlich ihres 40-jährigen Bestehens hatte die Stiftung an ihren namensgebenden Ort, in die ehemalige Kassenhalle der Preußischen Staatsbank (Seehandlung), geladen: den heutigen Leibniz-Saal der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am Gendarmenmarkt.

Mythischer Shiguli und Leitstern Radio

Der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt und der Ort gut gewählt. An den Wänden und Arkaden sind noch Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg zu sehen.

Auch im Werk Lutz Seilers scheine im Gegenwärtigen das längst Vergangene auf, wie Helmut Böttiger die poetische Methode des Ausgezeichneten beschrieb. Der Literaturkritiker, Essayist und Schriftsteller stellte in seiner Laudatio den diesjährigen Preisträger vor: Der 1963 im thüringischen Gera geborene Schriftsteller komme immer wieder auf zentrale Metaphern zurück und lade sie mit Bedeutung auf. So erhielte etwa der Autoname „Shiguli“ eine mythische Dimension, genauso wie die Zigarettensorte „F6“ oder das DDR-Transistorradio „Stern 111“, das im gleichnamigen Roman zum Leitstern für die Reise von Carls Eltern wird.

Die Preisverleihung fand in der ehemaligen Kassenhalle der Preußischen Staatsbank am Gendarmenmarkt statt

Die Preisverleihung fand in der ehemaligen Kassenhalle der Preußischen Staatsbank am Gendarmenmarkt statt
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Seilers erster Gedichtband aus den 1990er Jahren hieß „pech & blende“ – das waren nicht einfach poetische Metaphern, sondern konkrete Begriffe aus dem Uranbergbau. Von Seilers Heimatdorf Culmitzsch, das dem Uranabbau weichen musste, ist heute nur noch die gleichnamige Abraumhalde geblieben.

Endlose Inspektion als literarische Technik

Langsam habe sich der Lyriker Seiler auch an die Prosa herangearbeitet, führte Helmut Böttiger aus. In den Erzählungen „Die Zeitwaage“ von 2009 kehren Motive früherer Gedichte wieder, etwa der Werkzeugkasten mit dem Glockengeläut, wenn sich Vater und Sohn am Sonntagmorgen zur Garage aufmachen, um das Auto zu reparieren.

Das Mechanische und Maschinelle sei bei Seiler poetischer Ausgangspunkt. Seine literarische Technik entspreche dem, was für die Autowartung zu DDR-Zeiten gelte, für die Trabants, Wartburgs und Shigulis: „endlose Inspektion, immerwährende Durchsicht“. Drehen und wenden, jedes Detail prüfen, „bis die Worte aus sich selbst heraus zu leuchten beginnen“. Für den gelernten Bauchfacharbeiter und Maurer Seiler sei der Künstler die höchste Stufe des Handwerkers, sagte Laudator Böttiger.

Sänger Michael Schiefel und das Wood & Steel Trio trugen Lieder aus Hanns Eislers „Hollywood Songbook“ vor

Sänger Michael Schiefel und das Wood & Steel Trio trugen Lieder aus Hanns Eislers „Hollywood Songbook“ vor
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Berufung zur Gastprofessur

Über die Bedeutung der Wissensvermittlung las der Präsident der Freien Universität Berlin, Professor Günter M. Ziegler, in Seilers 2018 erschienenem Band „Am Kap des guten Abends“: Die Erzählung vom jungen Vater und seinen beiden Söhnen, die er selbst unterrichtet, habe auch mit einer der Aufgaben der Freien Universität Berlin zu tun: dass man bei den Grundlagen anfangen müsse.

Universitätspräsident Ziegler gratulierte Lutz Seiler zum Literaturpreis und berief ihn auf die Gastprofessur für deutschsprachige Poetik an der Freien Universität Berlin, wo er im Wintersemester eine Literaturwerkstatt für Studierende aus Berlin und Brandenburg anbieten wird.

Berliner Topografie des Schreibens

In seiner Dankesrede las Seiler Auszüge aus seinem Roman „Stern 111“ und skizzierte darüber einen Stadtplan seiner Berliner Zeit in den frühen 1990er Jahren. Wie ein Matrose, der in den Hafen einläuft, brauche auch das Schreiben Anker- und Anlegestellen, Orte, an denen es sich behausen kann, das heißt, „wo es geschützt blieb vor der alles assimilierenden, marginalisierenden Kraft der Großstadt“.

Lutz Seiler nimmt Blumen und Urkunde entgegen, rechts: Dr. Hans Gerhard Hannesen und Sarah Wedl-Wilson

Lutz Seiler nimmt Blumen und Urkunde entgegen, rechts: Dr. Hans Gerhard Hannesen und Sarah Wedl-Wilson

Einer dieser Anker war für Seiler die Rykestraße 27 im sogenannten Wasserturmviertel im Berliner Viertel Prenzlauer Berg, wo Carl, der Protagonist aus „Stern 111“, die Kohlenlagerplätze in seiner Umgebung erkundete, um Kohlen für den Ofen in seiner von ihm frisch besetzen Wohnung zu klauen.

Die in dieser Topografie vielleicht wichtigste Anlegestelle war die Neuköllner Friedelstraße 6, die Adresse von Seilers erstem Verlag, ein von Siegfried Heinrichs geführtes Ein-Mann-Unternehmen namens Oberbaum-Verlag. „Ein magischer Ort, an den der Verleger Heinrichs mich bestellte, um mit mir etwas zu besprechen, das ich mutigerweise Manuskript für einen Gedichtband nannte.“

Lutz Seiler nahm Preis und Professur dankend an: Die Herausforderung der Berufung an das Peter Szondi-Institut betrachte er als Ausdruck besonderen Vertrauens.

Weitere Informationen

Lutz Seiler hält seine Antrittsvorlesung als Gastprofessor für deutschsprachige Poetik am Peter-Szondi-Institut im Rahmen des Berliner Literaturpreises der Stiftung Preußische Seehandlung am 15. November um 18.15 Uhr im Seminarzentrum der Freien Universität Berlin, Raum L 116, Otto-von-Simson-Str. 26,14195 Berlin. Der Titel lautet: „ich hab dem vogel stimmen nachgesagt“.