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Chronik einer angekündigten Katastrophe

Wie der kanadische Crawford Lake den menschlichen Fußabdruck archiviert: Interview mit dem Geologen Reinhold Leinfelder zur möglichen Ausrufung eines neuen Erdzeitalters, des Anthropozäns

14.07.2023

Ein gemeinsames Wissenschaftsteam der kanadischen Carleton University und der Brock University entfernt gefrorene Abschnitte am Bohrkern, der aus dem Boden des Crawford Lake gezogen wurde.

Ein gemeinsames Wissenschaftsteam der kanadischen Carleton University und der Brock University entfernt gefrorene Abschnitte am Bohrkern, der aus dem Boden des Crawford Lake gezogen wurde.
Bildquelle: Peter POWER / AFP

In dieser Woche hat die „Anthropocene Working Group“ (AWG) einen Vorschlag zur Ausrufung eines neuen Erdzeitalters, des Anthropozäns, vorgestellt. Aufgabe der AWG, einem interdisziplinär und international zusammengesetzten Gremium aus 35 Wissenschaftler*innen, ist es zu prüfen, ob die Einführung eines allerjüngsten Erdzeitalters sinnvoll wäre. Ein Gespräch mit dem Geologen Reinhold Leinfelder, emeritierter Professor der Freien Universität Berlin und seit 2012 Mitglied der AWG, über die Bedeutung eines kleinen Sees in Kanada, das Dinosauriersterben als Referenz – und welche Konsequenzen die Ausrufung des Anthropozäns hätte.

Herr Professor Leinfelder, der Begriff Anthropozän, mit dem eine neue Erdzeitepoche bezeichnet werden soll, ist seit inzwischen 23 Jahren in der Welt. Was ist jetzt neu?

„Vergleichbar mit dem Dinosaurier-Aussterben“. Der Geologe Prof. Dr. Reinhold Leinfelder ist Mitglied der „Anthropocene Working Group“.

„Vergleichbar mit dem Dinosaurier-Aussterben“. Der Geologe Prof. Dr. Reinhold Leinfelder ist Mitglied der „Anthropocene Working Group“.
Bildquelle: Jan O. Kersten

Neu ist, dass jetzt ein Befund darüber vorliegt, dass das Anthropozän geologisch und stratigraphisch real ist: Das heißt, dass wir zeitlich verorten können, seit wann sich vom Menschen verursachte Ablagerungen niederschlagen – weltweit und in allen Ablagerungsräumen: etwa dem offenen Meer, in Korallenriffen, marinen Buchten, Seen und Mooren. Das bestimmbare Alter dieser Untergrenze liegt beim Jahr 1950.

Neu ist auch, dass wir jetzt nachweisen können, dass diese Geosignale auf menschliche Tätigkeiten zurückgehen, wie etwa radioaktive Niederschläge aus den Atombombenversuchen, Flugasche aus industriellen Prozessen, „Technofossilien“ wie Plastikpartikel, elementares Aluminium, Beton- und Ziegelreste sowie geochemische Signale aus Landwirtschaft, Industrie und Verkehr. Aber auch klassische Fossilien sind zu Definitionszwecken verwendbar, etwa Kieselalgen, die andere verdrängen, viele invasive Arten, etwa bei Muscheln und Schnecken, aber auch Pflanzenpollen.

Einfacher ausgedrückt: Wir können nachweisen, wie wir die Natur dauerhaft verändern – nämlich dass wir ganze Berge abtragen, neue Täler schneiden, bestimmen, wie Flüsse fließen, dass wir neue Seen erschaffen, entscheiden, wo sich etwas ablagert und wo nicht, bestimmen, welche Organismen wo und wie leben, dass wir den Meeresspiegel anheben und das Klima verändern. Dies alles schlägt sich in den anthropozänen Sedimenten sichtbar und dauerhaft nieder.

Wir provozieren sogar, etwa bei der Gas-Fördermethode Fracking, spürbare Erdbeben und beeinflussen durch zu viel Grundwasserentnahme den Verlauf der Polwanderkurve: Dadurch „eiert“ die Erde etwas stärker.

Wie kommt nun der Crawford Lake in Kanada ins Spiel, der in dieser Woche zum Referenzort für das Anthropozän ernannt worden ist?

Die formalen Regeln der Internationalen Kommission für Stratigraphie sehen vor, dass es einen Referenzort verbunden mit einer Referenzsedimentabfolge (Global boundary Stratotype Section and Point, GSSP) gibt, an dem erdgeschichtliche Abschnitte festgemacht werden. Solche Orte werden markiert und müssen für die Wissenschaft dauerhaft zugänglich sein.

Das ist vergleichbar mit dem Vorgehen bei der Definition neuer Organismenarten in der Biologie. Dort wird ein Referenzexemplar, der Holotypus, ebenfalls dauerhaft und für alle Wissenschaftler*innen zugänglich in einer wissenschaftlichen Sammlung aufbewahrt, in der Regel verbunden mit sogenannten Paratypen, um die Variabilität innerhalb einer Art aufzuzeigen. In der Geologie ist dies eben der GSSP.

Und warum ist die Entscheidung gerade auf einen kanadischen See gefallen?

Die Entscheidung über den Vorschlag zum Referenzort liegt bei der Anthropocene Working Group. Wir haben uns die Entscheidung nicht leichtgemacht, sondern zwölf unterschiedliche Orte weltweit mit genau denselben Methoden untersucht. Sie liegen im Meer (pazifisches und karibisches Korallenriff; in der zentralen Ostsee, eine marine Bucht in Japan, in der San Francisco Bay) oder an Land – auch hier teilweise weit entfernt von der Zivilisation (etwa ein tiefer Maarsee in China, ein Moorgebiet in Polen, ein Eiskern in der Antarktis) oder in Nähe der Zivilisation (Searsville Lake in den USA, Crawford Lake in Kanada, Karlsplatz in Wien).

Wichtig für die Entscheidung war, immer das Hauptsignal ablesen zu können: den Anstieg der radioaktiven Niederschläge um 1950 sowie weitere Geosignale. Wichtig war aber auch, eine möglichst hohe, am besten jährliche Zeitauflösung zu erhalten.

Tim Patterson (li.), Professor für Geologie an der Carleton University und das Wissenschaftsteam auf dem Crawford Lake in Ontario beim Sammeln von Sedimentschichten vom Boden des Sees. Das Bild wurde am 12. April 2023 aufgenommen.

Tim Patterson (li.), Professor für Geologie an der Carleton University und das Wissenschaftsteam auf dem Crawford Lake in Ontario beim Sammeln von Sedimentschichten vom Boden des Sees. Das Bild wurde am 12. April 2023 aufgenommen.
Bildquelle: Peter POWER / AFP

Hier ist der Crawford Lake besonders geeignet: weil er sowohl die globalen als auch regionalen Signale zeigt und dazu eine höchstmögliche jährliche, sogar saisonale Zeitauflösung bietet. Er archiviert damit menschenbedingte ökologische Veränderungen und zeigt – als einziger der untersuchten Kandidaten – unter der Anthropozän-Abfolge auch frühere menschliche Aktivitäten durch die indigene Bevölkerung, später durch die europäischen Siedler.

Alle anderen untersuchten Kandidaten für Referenzorte sind ebenfalls überaus spannend, und ich würde mir wünschen, dass möglichst viele von ihnen formale Hilfsprofile werden, damit typische Sedimentabfolgen aus ganz unterschiedlichen Ablagerungsprofilen zur Verfügung stehen. Darüber wird die AWG nun diskutieren und entscheiden.

Warum ist es überhaupt erforderlich, ein neues Erdzeitalter auszurufen?

Das Erdsystem des Holozäns – also der nacheiszeitlichen Quartärepoche, in der wir gegenwärtig leben – unterscheidet sich von dem des Anthropozäns grundlegend. Die Eingriffe des Menschen in das Erdsystem lassen sich durchaus etwa mit dem Meteoriteneinschlag an der Kreide-Paläogen-Grenze vor 66 Millionen Jahren vergleichen, der auch die Dinosaurier zum Aussterben brachte. Oder mit den gigantischen und über lange Zeit anhaltenden Vulkanausbrüchen in Sibirien an der Perm-Trias Grenze vor 252 Millionen Jahren, die das größte Artensterben überhaupt bedingten.

Da drängt es sich auf, das Anthropozän auszurufen. Denn dieses mit dem Holozän gleichzusetzen, wäre nicht nur Äpfel mit Birnen, sondern eher schon Äpfel mit Melonen zu vergleichen.

Welche Konsequenzen hätte die Ausrufung des Anthropozän?

Es hätte Vorteile für uns alle. Wenn das Anthropozän mit stratigraphisch definierter Untergrenze auf das Jahr 1950 und weitere isochrone „Events“ überwiegend sogar in jährlichen Zeiteinheiten differenzierbar wird, steht ein exaktes sedimentäres Archiv menschlicher Tätigkeiten zur Verfügung, das im Unterschied zu anderen, sogenannten historischen Archiven, nicht vom Menschen eingerichtet wurde.

In historischen Archiven und Melderegistern legen Menschen fest, wo und was überhaupt registriert und aufbewahrt werden soll, wie zum Beispiel Veröffentlichungen, der jährliche Düngemittelverbrauch, Fischfangzahlen, Versicherungsdaten zu Unwetterschäden, ausgewählte Flugbahnen von Erkundungssatelliten.

Bohrkern der Sedimente am Boden des Crawford Lake. Wie bei Baumringen lassen sich die Jahre abzählen. Mikroskopische und geochemische Untersuchungen zeigen die menschlichen Signaturen, darunter radioaktive Niederschläge und Industrieasche.

Bohrkern der Sedimente am Boden des Crawford Lake. Wie bei Baumringen lassen sich die Jahre abzählen. Mikroskopische und geochemische Untersuchungen zeigen die menschlichen Signaturen, darunter radioaktive Niederschläge und Industrieasche.
Bildquelle: F. McCarthy

Im Gegensatz dazu wurde und wird das Umweltarchiv der anthropozänen Sedimente von der Natur „zur Verfügung gestellt“: Es archiviert den menschlichen Fußabdruck weltweit und in allen Ablagerungsräumen. Für die Wissenschaft ist es ein großer Gewinn, diese Daten mit Daten aus der Archäologie und den historischen Archiven interdisziplinär auszuwerten und Fortschritte oder auch Rückschritte bei unseren Bemühungen zur Transformation automatisch aufgezeichnet zu bekommen.

Im Anthropozän verschränken sich die „Tiefenzeit“ mit der gegenwärtigen „Großen Beschleunigung“ und deren Auswirkungen, dem „Langen Jetzt“. Das „Lange Jetzt“ bedeutet, dass etwa die Strahlung radioaktiver Niederschläge, der Klimawandel, der Meeresspiegelanstieg noch lange weitergehen werden, selbst wenn deren Ursachen morgen abgestellt würden. Das Wissen darum kann hoffentlich zu einer verbesserten Zukunftskompetenz beitragen, indem wir lernen, nicht nur wahrscheinliche, sondern auch mögliche – und daraus abgeleitet – wünschbare Zukunftsperspektiven zu erarbeiten, umzusetzen und zu überwachen.

Wann und von wem wird darüber entschieden, ob das Anthropozän, ausgerufen wird oder nicht?

Entschieden wird es von der Internationalen Kommission für Stratigraphie (ICS), das ist das größte und älteste wissenschaftliche Gremium der International Union of Geological Sciences (IUGS), das manche auch scherzhaft die UNO der Geologischen Wissenschaften nennen. Die Anthropocene Working Group, in der ich seit 2012 Mitglied bin, hat am 11. Juli 2023 ihren Vorschlag öffentlich präsentiert. Er muss nun noch formal ausgearbeitet und eingereicht werden, danach stimmen SQS (Subcommission on Quaternary Stratigraphy), ICS und IUGS darüber ab.

Ein Selbstläufer ist dies keinesfalls, es ist also weiterhin offen, ob diese Gremien eine formale Anthropozän-Definition befürworten, hierfür braucht es mindestens 60 Prozent Ja-Stimmen. Wenn es positiv ausgeht, gehen wir davon aus, dass auf dem nächsten Internationalen Geologischen Kongress 2024 in Busan in Korea das Anthropozän geologisch formalisiert sein wird.

Noch einmal zurück zum Crawford Lake in Kanada – was hat es mit dem goldenen Nagel auf sich, der dort eingeschlagen werden soll?

Der Begriff ist aus der Geschichte der Eisenbahn entlehnt: Nach enormem Aufwand und Schwierigkeiten wurden 1849 die Bauarbeiten zur ersten transkontinentalen Eisenbahnverbindung in den USA beendet. Der allerletzte fürs Bahngleis eingeschlagene Nagel war ein goldener Nagel in Utah. Er sollte die Freude der Fertigstellung zum Ausdruck bringen. Daran erinnert heute der Golden Spike National Historic Park.

Da der Begriff „Global boundary Stratotype Section and Point” nicht so leicht von der Zunge geht, wird auch in der Geologie gern der Begriff des „Golden Spike“ verwendet. Er wird auf der Stratigraphischen Tabelle der ICS immer dann eingezeichnet, wenn eine formale Definition festgelegt wird.

Wenn eine neue erdgeschichtliche Einheit endlich und nach langer Vorbereitungszeit formal definiert wird, ist das ein Anlass zur Freude, weswegen dann ein Goldener Nagel in die Referenzsedimente eingeschlagen wird. Auf diesen Moment fürs Anthropozän freue ich mich schon sehr.

Die Fragen stellte Christine Boldt