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„Völkerrechtliche Fragen konstruktiv und kritisch diskutieren“

An der Freien Universität trafen Völkerrechtler, Politikerinnen und Politiker mit einer ukrainischen Delegation zusammen

06.12.2022

Andrii Yermak, Leiter des Büros des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, sandte eine Videobotschaft für die Veranstaltung an der Freien Universität Berlin.

Andrii Yermak, Leiter des Büros des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, sandte eine Videobotschaft für die Veranstaltung an der Freien Universität Berlin.
Bildquelle: Michael Fahrig

Angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine fordern immer mehr Personen aus der Politik – aber auch aus der Wissenschaft  – die Einrichtung eines internationalen Sondertribunals. Dazu fand eine öffentliche, vom Rechtswissenschaftler Professor Helmut Aust initiierte, Veranstaltung an der Freien Universität Berlin statt.

Seit Beginn des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 sucht die internationale Gemeinschaft nach Möglichkeiten, Russland für die vielfachen Verstöße gegen das Völkerrecht verantwortlich zu machen. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag ist dabei für die strafrechtliche Verfolgung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zuständig. Doch ausgerechnet für den Angriffskrieg an sich –- dem Ursprung aller folgenden Gewalttaten – gibt es kein zuständiges Gericht.

Die Ukraine und auch immer häufiger weitere europäische Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Wissenschaft fordern deshalb die Einrichtung eines Sondertribunals – ähnlich wie das Internationale Militärtribunal in Nürnberg, das nach dem Zweiten Weltkrieg die Hauptkriegsverbrecher Nazi-Deutschlands für ihre Kriegsverbrechen verurteilte. Bei dem nun angestrebten Sondertribunal sollen Personen der obersten politischen und militärischen Führungsebene Russlands für das Verbrechen der Aggression zur Verantwortung gezogen werden.

Maria Mezentseva, Leiterin der Ständigen Delegation der Ukraine bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE) und Mitglied des ukrainischen Parlaments, warb eindringlich für die Einrichtung eines Sondertribunals.

Maria Mezentseva, Leiterin der Ständigen Delegation der Ukraine bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE) und Mitglied des ukrainischen Parlaments, warb eindringlich für die Einrichtung eines Sondertribunals.
Bildquelle: Michael Fahrig

Eine ukrainische Delegation besuchte Anfang Dezember die Freie Universität Berlin, um im Henry-Ford-Bau über die Möglichkeit eines solchen Sondertribunals in einer öffentlichen Veranstaltung zu informieren. Unter den Gästen war der Menschenrechtsanwalt und ukrainische Sonderbotschafter für die Einrichtung eines Sondertribunals, Anton Korynevych, sowie die Leiterin der Ständigen Delegation der Ukraine bei der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE) und Mitglied des ukrainischen Parlaments, Maria Mezentseva. Die Menschenrechtsaktivisten Oleksandra Drik, von der ukrainischen Menschenrechtsorganisation Center for Civil Liberties (CCL), der am 10. Dezember 2022 zusammen mit der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial der Friedensnobelpreis verliehen wird, berichtete eindringlich von der Lage in der Ukraine. Auch der Völkerrechtsexperte der Humboldt-Universität, Professor Christian Tomuschat, war als Redner geladen.

Auch der Menschenrechtsanwalt und ukrainische Sonderbotschafter für die Einrichtung eines Sondertribunals, Anton Korynevych, erläuterte die Gründe für den Wunsch der Ukraine nach einem neuen Gericht.

Auch der Menschenrechtsanwalt und ukrainische Sonderbotschafter für die Einrichtung eines Sondertribunals, Anton Korynevych, erläuterte die Gründe für den Wunsch der Ukraine nach einem neuen Gericht.
Bildquelle: Michael Fahrig

Andrii Yermak, Leiter des Büros des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, sandte eine Videobotschaft. Der stellvertretende Büroleiter, Andrii Smyrnov, nahm per Videoschalte teil. Die hochrangige ukrainische Delegation hatte zuvor auch im Bundestag und den G7-Justizministerinnen und Justizminister über den ukrainischen Wunsch zur Einrichtung eines Sondertribunals berichtet. In den kommenden Tagen wollte die Delegation weitere politische Institutionen in ganz Europa und den USA besuchen.

Auch mit Blick auf ihre eigene Geschichte und Gründungsgeschichte sei die Freie Universität ein besonders geeigneter Platz für die Debatte zur Einrichtung eines Sondertribunals, sagte der Präsident der Freien Universität Berlin, Professor Günter M. Ziegler. Er verwies in seinem Grußwort auf die große Solidarität europaweit und an der Hochschule mit den Menschen in der Ukraine und betonte: „Es ist großartig zu sehen, wie die ukrainische Regierung, NGOs, Think Tanks, internationale Organisationen, die Wissenschaft und die Zivilgesellschaft einbindet.“

Der an der Freien Universität Berlin lehrende Völkerrechtler Professor Helmut Aust, der den Besuch der ukrainischen Delegation koordiniert hatte, sagte: „Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wirft viele völkerrechtliche Fragen auf. Die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit von Tätern ist eine der ganz zentralen Aspekte in diesem Kontext. Auch für die deutsche öffentliche Diskussion ist es wichtig, die völkerrechtlichen Fragen konstruktiv und kritisch zu diskutieren.“

Helmut Aust, Völkerrechtsprofessor an der Freien Universität Berlin hat den Austausch mit der ukrainischen Delegation initiiert und koordiniert.

Helmut Aust, Völkerrechtsprofessor an der Freien Universität Berlin hat den Austausch mit der ukrainischen Delegation initiiert und koordiniert.
Bildquelle: Michael Fahrig

Die ukrainische Menschenrechtsaktivistin Oleksandra Drik lenkte den Blick auf die Opfer des Krieges. Allein das CCL habe rund 27.000 Verbrechen der russischen Armee an der ukrainischen Zivilbevölkerung dokumentiert. „Dieser Krieg ist ein Völkermord“, sagte die Menschenrechtsanwältin. Sie verwies zudem auf Angaben der Vereinten Nationen (UN), wonach von dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine weltweit rund 1,6 Milliarden Menschen betroffen sind durch eine Nahrungsmittel-, Finanz- und Energiekrise. „Wir haben es mit dem größten kriegerischen Konflikt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu tun“, sagte Oleksandra Drik. Wenn Russland nicht für seine Straftaten zur Rechenschaft gezogen werde, dann wäre dies ein verheerendes Zeichen auch für andere Diktatoren in der Welt.

Noch ist unklar, ob ein solches Sondertribunal geschaffen wird. Die internationalen juristischen Hürden sind hoch. Die Bundesregierung hatte sich bislang zurückhaltend zu dem Konzept gezeigt. Doch international wächst die Unterstützung. Nur einen Tag vor dem Besuch der ukrainischen Delegation an der Freien Universität hatte die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, klargestellt: „Russland muss für seine entsetzlichen Verbrechen zahlen.“ Dazu wolle die EU mit dem IStGH zusammenarbeiten, um einen speziellen Gerichtshof zu schaffen.