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Du bist nicht allein, du kannst dich wehren

Jede zweite Studentin in Deutschland wird während ihres Studiums sexuell belästigt oder erleidet Gewalt – ein Aktionstag an der Freien Universität gegen Belästigung, Diskriminierung und Gewalt machte das Problem öffentlich

13.05.2020

Für den Aktionstag im Februar aus Chile angereist: die feministische Aktivistin Amanda Mitrovich Paniagua.

Für den Aktionstag im Februar aus Chile angereist: die feministische Aktivistin Amanda Mitrovich Paniagua.
Bildquelle: Sören Maahs

Es ist ein wütender Aufschrei. Mit Wucht skandieren zwei Dutzend Studierende der Freien Universität eine Anklage gegen Gewalt an Frauen. Sie stampfen, zeigen mit dem Finger auf die Machos. Studierende und Lehrkräfte, die an diesem Februarmorgen durch die Rostlaube eilen, stutzen, bleiben stehen, schauen hin, lassen sich aus ihrem Alltag reißen. 

Der emotionale Höhepunkt des choreografierten Protestsongs ist eine vielfach wiederholte Textzeile, in der es heißt: „Und es war nicht meine Schuld, wo ich war oder was ich trug!“ Damit wird kritisiert, dass oft Frauen selbst die Schuld gegeben wird, wenn sie Gewalt erfahren. 

Die Protestperformance „Un violador en tu camino“ – ein Vergewaltiger auf deinem Weg – haben die Studierenden von dem feministischen Kollektiv „Las Tesis“ übernommen. Im November 2019 hatte die Gruppe in Chile damit eine Massenbewegung gestartet. Seitdem haben weltweit immer mehr Frauen in den Sprechgesang eingestimmt. 

Eingebettet war die Performance in den Aktionstag gegen sexualisierte Belästigung, Diskriminierung und Gewalt an der Universität, der vom Margherita-von-Brentano-Zentrum der Freien Universität im Februar, also vor der Coronavirus-Krise, ausgerichtet wurde. Die Studierenden hatten sich zuvor in dem Gender-und-Diversity-Seminar im Rahmen des Studienbereichs Allgemeine Berufsvorbereitung „MeToo und die Universität“ mit der Problematik auseinandergesetzt. Die Ergebnisse dieser Arbeit präsentierten sie in Form einer öffentlichen Ausstellung. Teil des Aktionstags waren außerdem weitere Performances, Vorträge und eine Podiumsdiskussion.

Kraftvoll und rhythmisch: Beim Aktionstag im Februar forderten Studierende an der Freien Universität zum Kampf auf gegen Gewalt an Frauen.

Kraftvoll und rhythmisch: Beim Aktionstag im Februar forderten Studierende an der Freien Universität zum Kampf auf gegen Gewalt an Frauen.
Bildquelle: Sören Maahs

Heike Pantelmann, Geschäftsführerin des Margherita-von-Brentano-Zentrums, liest Beträge einer Installation, die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung auffordert, eigene Erfahrung von sexualisierter Belästigung und Gewalt aufzuschreiben.

Heike Pantelmann, Geschäftsführerin des Margherita-von-Brentano-Zentrums, liest Beträge einer Installation, die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung auffordert, eigene Erfahrung von sexualisierter Belästigung und Gewalt aufzuschreiben.
Bildquelle: Sören Maahs

Sexualisierte Übergriffe: Mehr als die Hälfte aller Studentinnen betroffen

Mit Blick auf die deutschen Hochschulen sprach Heike Pantelmann, Geschäftsführerin des Margherita-von-Brentano-Zentrums, von einem „omnipräsenten Problem“. Unter 12.000 Studentinnen in Deutschland, die für eine europaweite Studie befragt wurden, hätten mehr als die Hälfte während ihres Studiums sexualisierte Belästigungen oder Gewalt erlebt. Diese gehen nahezu ausschließlich von Männern aus. Die größte Tätergruppe sei die der Kommilitonen der Studentinnen, in knapp sieben Prozent der Gewalttaten seien es Dozenten und Professoren. 

Die Fälle reichten von zweideutigen Anspielungen über unerwünschte Einladungen und Berührungen bis zu Vergewaltigungsdrohungen und Übergriffen. „Am Arbeitsplatz findet sexualisierte Belästigung vor allem dort statt, wo das Machtgefälle besonders groß ist und die Chefs männlich sind“, sagte Heike Pantelmann. Und das träfe im Großen und Ganzen auch auf die deutschen Hochschulen zu: Sie seien noch immer hierarchisch organisiert – und männlich dominiert dazu. 

Sexistische „Scherze“ nicht einfach weglächeln

In einer weiteren Performance griffen die Studentinnen Berfin Yildirim, Franziska Wohlfahrt, Rosalina Höfner und Annkathrin Nagelsdiek Vorfälle auf, die eindrücklich den Sexismus im Uni-Alltag vor Augen führten. Vorfälle, die sie selbst erlebt oder die sich in ihrem Bekanntenkreis zugetragen haben: Eine Studentin wird zum humorlosen Blaustrumpf gestempelt, weil sie eine als „Scherz“ verschleierte sexistische Bemerkung nicht weglächeln möchte. Ein Student der Theaterwissenschaft „belehrt“ eine Kommilitonin, dass Männer in die Regie und Frauen in den Souffleusenkasten gehörten. Ein Professor greift im vollbesetzten Hörsaal einer Studentin ans Gesäß. Im Chor riefen die vier: „Du bist nicht allein! Du kannst dich wehren!“ 

Die Studentinnen hoffen, dass der Aktionstag die Problematik in der Hochschulöffentlichkeit deutlicher sichtbar macht und dazu beiträgt, Diskriminierung und Gewalt an der Universität zu reduzieren. 

Professorin Verena Blechinger-Talcott, Vizepräsidentin der Freien Universität, eröffnet die Ausstellung.

Professorin Verena Blechinger-Talcott, Vizepräsidentin der Freien Universität, eröffnet die Ausstellung.
Bildquelle: Sören Maahs

Was tun für ein respektvolles Miteinander in der Universität? 

„Die Freie Universität muss ihre Angehörigen vor sexualisierter Belästigung und Gewalt schützen“, sagte Japanologieprofessorin Verena Blechinger-Talcott in einer Ansprache, in der sie auch auf persönliche Erfahrungen mit sexistischer Diskriminierung einging. Angestellte der Freien Universität müssten für die Problematik sensibilisiert, Verstöße sofort sanktioniert und Anlaufstellen für Betroffene geschaffen und bekannt gemacht werden, sagte die Vizepräsidentin der Freien Universität mit der Zuständigkeit für Gleichstellung und Diversity. Dies sei entscheidend, da viele Studentinnen sich in einem Abhängigkeitsverhältnis zu einem Dozenten oder Professor befänden. 2019 habe man deswegen in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe gegen sexualisierte Belästigung, Diskriminierung und Gewalt eine neue Richtlinie zu sexualisierter Gewalt verabschiedet, die einen respektvollen Umgang miteinander verlangt.

Ende der Straflosigkeit

Extra aus Chile angereist war die feministische Aktivistin Amanda Mitrovich Paniagua. Im vollbesetzten Seminarraum berichtete sie von der Gründung der Frauenkommission COFEU (Coordinadora Feminista Universitaria), die verbindliche Verhaltensrichtlinien an allen chilenischen Universitäten durchzusetzen möchte. Noch gebe es jedes Jahr landesweit Hunderte sexuelle Übergriffe an Universitäten, die vor allem dadurch möglich seien, dass die Dozenten und Hochschulfunktionäre die Täter in Schutz nehmen oder keine rechtlichen Schritte einleiten würden. Mit zahlreichen Aktionen hätten feministische Aktivistinnen in Chile ein Ende der Straflosigkeit, wirksame Sanktionen für die Täter und einen besseren Schutz gefordert. In diesem Umfeld sei auch die berühmt gewordene „Un Violador en tu camino“-Performance entstanden. 

Sie habe Amanda Mitrovich Paniagua eingeladen, sagte Heike Pantelmann, weil die Aktivistin – und überhaupt die feministische Bewegung in Chile und Lateinamerika – so engagiert und kämpferisch sei. Vielleicht, so ihre Hoffnung, lassen sich Feministinnen in Deutschland von dieser ungemeinen Mobilisierungskraft anstecken. „Und ehrlich gesagt finde ich es sehr schön, wenn wir uns in Berlin von den vermeintlichen Rändern der Welt zeigen lassen, wie Aktivismus heute aussehen kann.“