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„Keine betroffene Familie vergisst, was geschehen ist“

10. Juni 1944: Vor 76 Jahren ermordeten die deutschen Besatzer die Einwohner des griechischen Ortes Distomo – Jugendliche der Deutschen Schule Athen und des Lyzeums Distomo diskutierten Ende vergangenen Jahres über das Erinnern an das Massaker

10.06.2020

Politische Bildung am historischen Ort: Jedes Jahr besuchen Schülerinnen und Schüler der Deutschen Schule Athen und des Lyzeums Distomo gemeinsam die Gedenkstätte in Distomo

Politische Bildung am historischen Ort: Jedes Jahr besuchen Schülerinnen und Schüler der Deutschen Schule Athen und des Lyzeums Distomo gemeinsam die Gedenkstätte in Distomo
Bildquelle: Regina Wiesinger

Die Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa vor 75 Jahren und die Befreiung vom Nationalsozialismus ist in diesen Wochen in Deutschland sehr präsent. Am 8. Mai sprach Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier von der Notwendigkeit des Erinnerns, die die Deutschen in besonderer Weise fordere und verpflichte. Der Bundespräsident warnte davor „einen Schlussstrich unter die Erinnerung“ ziehen zu wollen, das würde „all das Gute, das wir seither errungen haben, entwerten – es würde sogar den Wesenskern unserer Demokratie verleugnen“. Gemeinsam mit Bundeskanzlerin Angela Merkel gedachte er der unzähligen Opfer des Krieges und des Nationalsozialismus. 

Auch die Bewohner von Distomo, einem in Deutschland kaum bekannten Gedenkort in Griechenland, zählten zu den Opfern nationalsozialistischer Vergeltungsmaßnahmen. Am 10. Juni 2020 wird dort an eines der brutalsten Kriegsverbrechen der deutschen Besatzungsmacht erinnert, das sich zum 76. Mal jährt. 

An dem kleinen Städtchen Distomo am Fuß des Parnassgebirges fahren vermutlich viele deutsche Griechenlandurlauber vorbei, ohne Halt zu machen. Von Delphi aus machen die Ausflugsbusse oft einen Abstecher in das berühmte Kloster Hosios Lukas – auf halber Strecke, zwischen steilen Berghängen, liegt Distomo. Dort richteten am 10. Juni 1944 Angehörige einer SS-Polizeidivision ein Blutbad an: Als „Sühnemaßnahme“ für einen Partisanenangriff, bei dem drei deutsche Soldaten getötet worden waren, ermordeten sie alle 218 wehrlos zurückgebliebenen Einwohner, darunter 30 Säuglinge und Kleinkinder, auf grausame Weise. Zuletzt steckten sie die Häuser in Brand.

Über die deutsche Besatzung in Griechenland während des zweiten Weltkriegs ist in der deutschen Öffentlichkeit wenig bekannt. Weder haben die Hinterbliebenen des Kriegsverbrechens von Distomo eine Entschädigung erhalten, noch sind die Täter angeklagt, geschweige denn verurteilt worden. Eine Klage von Überlebenden vor dem Bundesgerichtshof im Jahr 2003 blieb erfolglos.

Schülerinnen und Schüler der Deutschen Schule Athen und des Lyzeums Distomo im vergangenen Dezember an der Freien Universität Berlin.

Schülerinnen und Schüler der Deutschen Schule Athen und des Lyzeums Distomo im vergangenen Dezember an der Freien Universität Berlin.
Bildquelle: Sören Maahs

Bei dem Workshop an der Freien Universität ging es darum, wie man Interviews mit Zeitzeugen führt, wie Filmbearbeitung funktioniert und wie man eine Webseite gestaltet.

Bei dem Workshop an der Freien Universität ging es darum, wie man Interviews mit Zeitzeugen führt, wie Filmbearbeitung funktioniert und wie man eine Webseite gestaltet.
Bildquelle: Tasos Telloglou

Auch 76 Jahre später lebt in Griechenland die Erinnerung an das Massaker weiter. Auch dank der langjährigen Schülerbegegnungsprojekte der deutschen Schule Athen und des Lyzeums Distomo: Seit Mitte der 1990er Jahre nehmen Schulklassen der Deutschen Schule Athen an den Gedenkfeiern in Distomo, am historischen Ort, teil. Vor etwa zehn Jahren habe sich der Austausch mit Distomo intensiviert, sagt Regina Wiesinger, die an der Deutschen Schule unterrichtet, über das Begegnungsprojekt, zu dem neben gemeinsamen Fahrten zu deutschen und griechischen Gedenkorten auch Zeitzeugengespräche gehören. 

Workshop an der Freien Universität

Im vergangenen Dezember, also noch vor dem Ausbruch der Coronavirus-Pandemie, kamen 21 Elftklässler beider Schulen zu einem Workshop an die Freie Universität. Der in Griechenland bekannte Journalist Tasos Telloglou begleitete die Schülerinnen und Schüler mit einem Kamerateam, um für das griechische Fernsehen zu berichten. 

Organisiert wurde der Workshop im Rahmen des an der Freien Universität Berlin angesiedelten Forschungs- und Bildungsprojekts „Erinnerungen an die Okkupation in Griechenland“. Das am Center für Digitale Systeme (CeDiS) angesiedelte umfangreiche Oral-History-Projekt umfasst knapp 100 lebensgeschichtliche Interviews von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, unter ihnen Widerstandskämpfer, KZ-Häftlinge, Juden und Überlebende von Kriegsverbrechen: Argyris Sfountouris aus Distomo etwa sowie viele weitere Augenzeugen aus Kalavryta und anderen Märtyrerorten auf dem griechischen Festland und den Inseln. Im Fokus des Projekts stehen die persönlichen Erfahrungen der Menschen.

Mit dem Online-Archiv und der dazugehörigen Bildungsplattform konnte ein umfangreiches digitales historisches Gedächtnis geschaffen werden, das die deutsche Besatzungszeit in Griechenland vor allem für die junge Generation in deutschen und griechischen Bildungseinrichtungen erfahrbar machen soll.

Initiiert wurde das Projekt von Nicolas Apostolopoulos, Professor für Medienpädagogik am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie der Freien Universität Berlin und langjähriger Leiter des CeDiS. „Ich wünsche mir, dass das Archiv als Werkzeug im Geschichtsunterricht Verwendung findet – sowohl an griechischen Gymnasien als auch an Schulen in Deutschland. Dafür bereiten wir in beiden Sprachen das digitale Bildungsmaterial und eine bilinguale Lehr- und Lernplattform vor“, sagt der Wissenschaftler. 

Professor Nicolas Apostolopoulos stellte den griechischen Schülerinnen und Schülern die Freie Universität vor.

Professor Nicolas Apostolopoulos stellte den griechischen Schülerinnen und Schülern die Freie Universität vor.
Bildquelle: Tasos Telloglou

Im Schatten der Vergangenheit

An der Freien Universität diskutierten die Schülerinnen und Schüler der beiden Schulen darüber, was die Vergangenheit ihnen eigentlich noch zu sagen hat. Wie kann es gelingen, die Erinnerung zu bewahren, aus ihr zu lernen und mithilfe dieser Erkenntnisse ein demokratisches Europa von morgen mitzugestalten?

„In Distomo gibt es eine Gedenkstätte und ein Museum für die Opfer des Nationalsozialismus“, berichtet berichtet Stamatia auf Griechisch, sie besucht das Lyzeum Distomo. „Die Namen der Opfer sind auf einer Marmorwand eingraviert, und ihre Schädel werden im Beinhaus hinter Glasscheiben gezeigt.“ Jedes Jahr gebe es zahlreiche Veranstaltungen zum Gedächtnis der Toten und eine Seelenmesse. 

Darüber hinaus gebe es familienspezifische Formen des Gedenkens, erzählt erzählt Maria, ebenfalls Schülerin aus Distomo:: „Keine Familie, die betroffen war, vergisst, was geschehen ist. Viele Überlebende bleiben ihr Leben lang von diesem Tag geprägt, sie tragen die Trauer und das Leid in sich. An jedem 10. Juni erinnern sie in Trauerkleidung an die Menschen, die sie verloren haben.“ Durch die Berichte der Vorfahren hätte sie selbst und viele andere Jugendliche einen sehr emotionalen Bezug zum Thema, sagt Maria. 

Alle Schülerinnen und Schüler waren sich einig, dass die deutsch-griechischen Beziehungen nicht allein im Schatten der Vergangenheit stehen sollten. Mindestens genauso wichtig sei der Blick nach vorn: „Wir Jugendlichen sollten an die Zukunft denken, denn die Vergangenheit betrifft eher die Älteren“, betont Nikos von der Deutschen Schule Athen. Das heiße aber nicht, dass die Erinnerung an die Opfer nicht wichtig sei. Ganz im Gegenteil müsste man die Erfahrungen der Kriegsopfer bewahren und öffentlich machen. Schülerin Elektra stimmt zu: „Wir dürfen nicht vergessen, was geschehen ist. Aber zwischen griechischen und deutschen Jugendlichen sollte es keine Feindseligkeit geben.“

Die Marmorplatten mit den 218 Namen der Opfer des Massakers vom 10. Juni 1944 am Mahnmal in Distomo.

Die Marmorplatten mit den 218 Namen der Opfer des Massakers vom 10. Juni 1944 am Mahnmal in Distomo.
Bildquelle: Regina Wiesinger

Was kostet Gerechtigkeit?

Wenn man die Überlebenden des Krieges nach der deutschen Besatzungszeit in Griechenland frage, stoße man rasch auf Geschichten, die keineswegs vergangen seien, sagt Vasiliki Karanasou, stellvertretende Leiterin des Lyzeums von Distomo. Sie hält eine Diskussion über die Schuldfrage und eine angemessene Entschädigung durch Deutschland für unausweichlich: „Deutsche Amtsträger drücken zwar gern ihr Bedauern aus – nur um gleichzeitig in rechtlichen Fragen unnachgiebig zu bleiben.“ Die Deutschen als Nachkommen der Täter müssten mehr leisten als warme Worte, meint die Lehrerin aus Distomo. „Kinder, die damals ihre Eltern verloren haben, sollten entschädigt werden. Und auch für ein niedergebranntes Haus sollte es eine Entschädigung geben.“ Erst dann könnte es gute Beziehungen zwischen beiden Ländern geben. 

Nicht alle Schülerinnen und Schüler aus Distomo glauben dagegen, dass erlittenes Unrecht „wiedergutgemacht“ werden kann: „Eine finanzielle Entschädigung erweckt die Toten nicht zum Leben, sie würde die Opfer nur mit einem Preis beziffern. Als könnte man einen verlorenen Menschen in Rechnung stellen!“, sagt Stamatia.

Die Schülerinnen und Schüler des Begegnungsprojekts treten auch in schwierigen Zeiten deutsch-griechischer Beziehungen für gegenseitiges Verständnis ein: „Wir möchten Vorurteile abbauen. Und zwar Vorurteile auf beiden Seiten“, sagt Nikos. 

Weitere Informationen

Die Leitung des Archivs „Erinnerungen an die Okkupation in Griechenland“ der Freien Universität obliegt Prof. Dr. Nicolas Apostolopoulos. Kontakt: nicolas.apostolopoulos@cedis.fu-berlin.de

Regina Wiesinger leitet das Jugendbegegnungsprojekt der Deutschen Schule in Athen und des Lyzeums Distomo. Kontakt: wiesinger@dsathen.gr