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„Wir brauchen mehr Aufklärung“

Eine internationale Tagung zu sexualisierter Diskriminierung und Gewalt an Hochschulen brachte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von drei Kontinenten zusammen und festigte gemeinsame Forschungsvorhaben

23.07.2018

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von drei Kontinenten kamen zusammen, um sich über sexualisierte Diskriminierung und Gewalt an Hochschulen auszutauschen.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von drei Kontinenten kamen zusammen, um sich über sexualisierte Diskriminierung und Gewalt an Hochschulen auszutauschen.
Bildquelle: Margherita-von-Brentano-Zentrum

Eine Jura-Studentin wird während ihres gesamten Studiums von einem ihrer Professoren sexuell belästigt. Als sie nach ihrem Studienabschluss in den Beruf als Rechtsanwältin starten will – und somit den Übergriffen entkommen – stellt sie fest, dass ihr durch Einwirken des Professors alle Türen verschlossen bleiben. Sie schreibt ihre Geschichte in einem Brief auf – und begeht Selbstmord.

Eine wahre Geschichte, die die brasilianische Anthropologin Rita Laura Segato in ihrem Einführungsvortrag erzählte und die die fast 100 Gäste in der Topoi-Villa der Freien Universität erst einmal verstummen ließ.

Die brasilianische Anthropologin Prof. Dr. Rita Laura Segato erzählte in ihrem Keynote-Vortrag von einem schockierenden Vorfall von sexueller Gewalt.

Die brasilianische Anthropologin Prof. Dr. Rita Laura Segato erzählte in ihrem Keynote-Vortrag von einem schockierenden Vorfall von sexueller Gewalt.
Bildquelle: Margherita-von-Brentano-Zentrum

Doch sprachlos blieben sie nicht lange. Drei Tage lang diskutierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Lateinamerika, Indien, Japan und Südkorea über sexualisierte Diskriminierung und Gewalt an Hochschulen, tauschten Forschungsergebnisse aus und planten weitere Kooperationen. Die internationale Tagung mit dem Titel „Perspectives and Discourses on Sexual Harassment in International Higher Education Contexts“ („Perspektiven und Diskussionen zu sexualisierter Belästigung an Hochschulen“) wurde vom Margherita-von-Brentano-Zentrum und dem Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin organisiert.

„Sexualisierte Gewalt geht quer durch die Gesellschaft“

Spätestens seit der #MeToo-Debatte in Nordamerika und Europa und der lateinamerikanischen Bewegung #NiUnaMenos („Nicht eine weniger“) steht das Thema sexuelle Gewalt im Fokus der Medien und sozialen Netzwerke. Doch betrifft das auch Universitäten? Gibt es sexuelle Übergriffe in Institutionen, die sich als Orte geistiger Bildung, Orte der Aufklärung, der Reflexion und des kritischen Bewusstseins verstehen? Universitäten, die sich für gender equality und diversity einsetzen, als Orte, „an denen gegrapscht wird, in denen vulgäre Bemerkungen gemacht werden?“, wie es Margreth Lünenborg, Journalistik-Professorin und wissenschaftliche Leiterin des Margherita-von-Brentano-Zentrums der Freien Universität Berlin, ausdrückte.

Absolut, bestätigt sie. „Wir wissen aus Forschungen, dass sexualisierte Gewalt nichts Schichtspezifisches ist, kein Arbeiterphänomen, sondern bis zur Upper Class überall vorkommt. Wir wissen, dass es nichts mit materiellem Wohlstand zu tun hat, nichts mit Bildung und Wissen, sondern ein Phänomen ist, das quer durch die Gesellschaft geht. Und deswegen haben wir keinen Grund anzunehmen, dass Universitäten eine Insel der Guten sind.“

Neben Umfragen an Universitäten bestätigen auch die Frauenbeauftragten, dass es im universitären Kontext zu sexuellen Belästigungen und Übergriffen kommt. Bei der Abschlussdiskussion der Konferenz saß daher auch die zentrale Frauenbeauftragte der Freien Universität und promovierte Mathematikhistorikerin Mechthild Koreuber mit auf dem Podium. Opfer sexueller Belästigung könnten sich vertraulich von den Frauenbeauftragten beraten lassen, sagte Mechthild Koreuber. 2015 hat die Freie Universität eine Richtlinie zum Umgang mit sexualisierter Diskriminierung und Gewalt verabschiedet. Mit Informationsmaterialien möchte sie Betroffenen Beratungs- und Unterstützungsangebote aufzeigen und zur Prävention und kritischen Auseinandersetzung beitragen.

Die Journalistik-Professorin und wissenschaftliche Leiterin des Margherita-von-Brentano-Zentrums der Freien Universität Berlin Dr. Margreth Lünenborg begrüßte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am ersten Konferenztag.

Die Journalistik-Professorin und wissenschaftliche Leiterin des Margherita-von-Brentano-Zentrums der Freien Universität Berlin Dr. Margreth Lünenborg begrüßte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am ersten Konferenztag.
Bildquelle: Margherita-von-Brentano-Zentrum

„Nicht eine weniger“

Im Verlauf der Konferenz stellten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer fest, dass es in der Form von sexualisierter Diskriminierung und Gewalt durchaus kulturelle und gesellschaftspolitische Unterschiede gebe. „Wenn es in Europa um schlechte Scherze, dumme Bemerkung bis hin zu Vergewaltigung geht, dann reicht die Bandbreite in Lateinamerika von Belästigung, verbalen Attacken bis hin zu Mord“, sagt Margreth Lünenborg. Diese Femizide – Morde an Frauen, weil sie Frauen sind – würden oft polizeilich nicht richtig ermittelt und führten 2015 in Argentinien zur #NiUnaMenos-Bewegung. Hunderttausende Frauen gingen auf die Straße; keine weitere Frau sollte durch einen Mann sterben. Symbol der Bewegung wurden grüne Halstücher, die auch einige lateinamerikanische Wissenschaftlerinnen trugen.

Etwas ganz anderes als der Machismo in Lateinamerika sei die androzentrische Kultur, wie sie an japanischen Universitäten existiert, auch wenn es sich bei beidem um Ungleichheitsstrukturen handele. Darüber berichtete Sachiko Osawa von der Tokyo University, eine der führenden Universitäten des Landes. Osawa erzählte, es gebe dort social clubs, an denen nur männliche Studenten ihrer Hochschule teilnehmen. Studentinnen könnten dort zwar auch hingehen, allerdings kämen diese dann von weniger gut angesehenen Universitäten. Im Grunde sei dieser Club ein „Heiratsmarkt“ und Männer müssten in Japan ihren Partnerinnen sozial überlegen sein. Das bedeute andersherum auch, dass die Scheu, eine hochqualifizierte junge Frau an diese Universität zu schicken, zumindest teilweise mit Schwierigkeiten auf dem innerjapanischen Heiratsmarkt verbunden sei, sagt Margreth Lünenborg. „Die Universität als Organisation verschränkt sich hier mit einer sozialen und kulturellen Struktur einer Gesellschaft. Das zeigt, dass die Frage, was Ungleichheit auf dem Campus ist, weit über die Lehr-Lern-Situation im Seminarraum hinausreicht.“

„Opfer wissen nicht, wohin“

Die anwesenden Wissenschaftlerinnen aus Costa Rica beschäftigen sich schon seit mehreren Jahren mit den Themen sexualisierte Diskriminierung an Hochschulen, Ungleichbehandlung bis hin zu Gewalt aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung. Um das Thema systematisch zu ergründen, haben sie einen Fragebogen für Studierende entwickelt. Diese Umfrage wurde an einigen anderen lateinamerikanischen Hochschulen sowie Anfang 2018 auch an den Fachbereichen Politik- und Sozialwissenschaften sowie Biologie, Chemie und Pharmazie der Freien Universität durchgeführt und soll auf alle Hochschulen der Konferenzteilnehmerinnen und -teilnehmer ausgeweitet werden. Deutlich geworden sei in der Befragung, dass sexualisierte Diskriminierungen auch hier in Deutschland zum Hochschulalltag gehören. Die Opfer sexualisierter Diskriminierung oder Gewalt wissen immer noch nicht genau, was sie tun und mit wem sie sprechen können, sagt Margreth Lünenborg. „Das heißt, wir brauchen weiterhin mehr Aufklärung und klare Zuständigkeiten.“

Bei der Mitte Juni stattgefundenen Tagung hielt die Vizepräsidentin der Freien Universität Berlin für Forschung und Professorin für Geographie Dr. Brigitta Schütt die Begrüßungsrede.

Bei der Mitte Juni stattgefundenen Tagung hielt die Vizepräsidentin der Freien Universität Berlin für Forschung und Professorin für Geographie Dr. Brigitta Schütt die Begrüßungsrede.
Bildquelle: Margherita-von-Brentano-Zentrum

Das Feedback zur Tagung sei von allen Beteiligten insgesamt positiv gewesen, sagt Margreth Lünenborg. „Es war eine sehr gute, produktive Atmosphäre.“ Auch der Ablauf habe dank des Einsatzes von Nina Lawrenz vom Lateinamerika-Institut und Heike Pantelmann vom Margherita-von-Brentano-Zentrum trotz verschobener Flüge, Sprachschwierigkeiten und des Streiks der studentischen Hilfskräfte für eine bessere und gerechte Bezahlung gut funktioniert. „Wir konnten uns mit den Studentinnen gut einigen“, sagt die Journalistik-Professorin. „Sie haben uns bei der Konferenz unterstützt und eine Protestaktion eingebaut, um auf die Situation der studentischen Beschäftigten aufmerksam zu machen.“

Als Ergebnis der Konferenz haben sich alle anwesenden Institutionen dafür entschieden, das gemeinsame Forschungsvorhaben weiterzuverfolgen. Es gehe darum, mit empirischen Methoden der Sozialforschung systematisch Daten und Informationen zu erheben, kulturelle Spezifika herauszufinden und gemeinsame Erfahrungen von Ungleichheit, Ausgrenzung und Diskriminierung festzumachen. Auf Grundlage dieser Daten sollen Strategien und Richtlinien entwickelt werden, um die Situation an den Universitäten zu verbessern. „Jetzt suchen wir die passende Finanzierungsmöglichkeit für diese transnationale Forschung“, sagt Margreth Lünenborg.