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„Eine ganze Generation hat zum ersten Mal das Wort ergriffen“

50 Jahre Achtundsechziger: Diskussion mit der Pariser Germanistikprofessorin Marie-Claire Hoock-Demarle und dem Historiker Professor Paul Nolte vom Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität / Nächste „Table Ronde“: 11. Juni, 18 Uhr

11.06.2018

Das Jahr 1968 war in Frankreich und Deutschland bewegt: Demonstrationen und Besetzungen an den Universitäten in Berlin und Paris waren an der Tagesordnung, in Frankreich führten Barrikaden und Straßenschlachten mit der Polizei zu einer Staatskrise. Fünf Jahrzehnte sind seitdem vergangen. . Aus diesem Anlass lud das Frankreich-Zentrum der Freien Universität zu einer Diskussionsrunde über die Bedeutung der Ereignisse 1968 für die deutsche und die französische Gesellschaft.

Unter der Moderation des Journalisten Sven Felix Kellerhoff leuchteten die Germanistikprofessorin Marie-Claire Hoock-Demarle von der Universität Paris VII Diderot und der Zeithistoriker Professor Paul Nolte von der Freien Universität aus, welche Rolle die Universitäten damals spielten – und wie sie sich durch die Ereignisse veränderten. „In Frankreich wurde das Universitätssystem völlig umgestaltet“, sagte Marie-Claire Hoock-Demarle. Die altehrwürdige Sorbonne wurde in sechs Universitäten aufgespalten, um der Wissenschaft mehr Unabhängigkeit von zentraler Steuerung zu geben.

Die Freie Universität bekam im Zuge des im Juli 1969 in Kraft tretenden Berliner Universitätsgesetzes anstelle eines Rektors einen Präsidenten. Die Wahl des ersten Präsidenten, Rolf Kreibich, „war damals ein Skandal“, sagte Paul Nolte, „denn Kreibich war unpromovierter Assistent“ – und nicht Professor, wie die zwölf vorangegangenen Rektoren. Aus der Ordinarienuniversität wurde die Gruppenuniversität: Vertreterinnen und Vertreter der Studentenschaft, des Mittelbaus und der nichtwissenschaftlichen Universitätsangestellten erhielten mit der Einführung der Drittelparität in den Gremien Mitbestimmungsrechte. „Ein beachtlicher deutscher Sonderweg“, befand Nolte, denn das Paritätssystem erinnere an das ständische Prinzip aus der Zeit des deutschen Kaiserreichs.

Eine besondere Errungenschaft der Achtundsechziger sei es, dass sie sich von den autoritären Strukturen in ihren Familien und an der Universität befreit hätten, sagte Marie-Claire Hoock-Demarle.

Eine besondere Errungenschaft der Achtundsechziger sei es, dass sie sich von den autoritären Strukturen in ihren Familien und an der Universität befreit hätten, sagte Marie-Claire Hoock-Demarle.
Bildquelle: Jonas Huggins

In Paris wie in Berlin waren Studierende die Köpfe der Bewegung: in Paris Daniel Cohn-Bendit, an der Freien Universität Rudi Dutschke. „Daniel Cohn-Bendit war eine Ikone des Protestes, der Jugendlichen“, sagte Marie-Claire Hoock-Demarle. Die Germanistin hat die Ereignisse 1968 miterlebt, damals als Dozentin in Heidelberg. Daniel Cohn-Bendit sei für Frankreich bis heute von großer Bedeutung, sagte Marie-Claire Hoock-Demarle, emeritierte Professorin an der „Reformuniversität“ Paris VII Diderot, die in den Jahren nach 1968 gegründet wurde. „Ob er Deutscher war oder nicht, spielte gar keine Rolle.“

Es waren aber die vielen Unterschiede zwischen dem „Pariser Mai“ und der Berliner Studentenbewegung, die die Diskussionen an der Table Ronde beherrschten. Die soziale Basis sei unterschiedlich gewesen, sagte Paul Nolte. In Paris hätten Studierende gemeinsam mit den Gewerkschaften protestiert. „Ein solcher Brückenschlag zwischen den Intellektuellen und dem Proletariat hatte den deutschen Studierenden auch vorgeschwebt“, sagte Paul Nolte. Doch wegen der Deindustrialisierung Westberlins sei eine Arbeiterschaft zur Verbrüderung kaum vorhanden gewesen.

Das Publikum saß, wie um einen runden Tisch, halbkreisförmig um die Referenten herum und beteiligte sich rege. Ein Zeitzeuge, der 1968 in München zu studieren begonnen hatte, erzählte, wie ihn die studentischen Aktivisten fasziniert hätten. Mit der Theorie des Marxismus hätten sie eine Sprache gefunden, mit der sie die Situation an der Uni und in der ganzen Welt kritisch thematisieren konnten.

Paul Nolte stimmte zu: Besonders an der Freien Universität habe der Marxismus in seinen vielen Varianten eine große Rolle gespielt. Gerade diese ideologische Verwurzelung werfe allerdings bei jüngeren Generationen häufig Fragen auf. „Warum gab es keine andere Sprache, etwa die Sprache einer basisdemokratischen Initiative?“, sagte Paul Nolte. „Warum mussten die Studierenden Maos China verteidigen, anstatt die liberale Demokratie zu stützen?“

In Frankreich habe Marx für die Studierenden keine so bedeutende Rolle gespielt, sagte Marie-Claire Hoock-Demarle. Marx sei bereits von der Kommunistischen Partei „gekapert“ gewesen, die in Frankreich eine bedeutende politische Kraft war. Unter Studierenden und Gewerkschaftlern seien die Marxisten völlig zersplittert gewesen, in die Anhänger von Mao, Trotzki, Marx-Lenin, des italienischen Marxismus und weiteren.

Eine Sprache gefunden zu haben, darin sah auch Marie-Claire Hoock-Demarle eine besonders wichtige Errungenschaft der Protestbewegungen. Die zwischen 1945 und 1950 Geborenen seien in autoritären Strukturen aufgewachsen, sowohl in ihren Familien als auch an den Universitäten. Das gelte ganz besonders für die Frauen, die in Frankreich erst zwei Jahrzehnte zuvor, 1944, das Wahlrecht erlangt hatten; ein eigenes Bankkonto zu eröffnen, war ihnen erst 1965 erlaubt worden. Bis 1968 hätten sich die Jüngeren in der Gesellschaft nicht eigenständig äußern können, sagte die Germanistin: „Eine Generation, eine ganze Altersklasse hat zum ersten Mal das Wort ergriffen.“

Weitere Informationen

„Mein Kampf“ übersetzen – Mitherausgeber der deutschen und französischen kommentierten Ausgabe im Gespräch

Es diskutieren Nicolas Patin (Université Bordeaux-Montaigne) und Othmar Plöckinger (Salzburg) unter der Moderation von Prof. Dr. Uwe Puschner, Co-Leiter des Frankreich-Zentrums der Freien Universität Berlin. Die Veranstaltungssprache ist Deutsch, der Eintritt frei.

Zeit und Ort

  • 11. Juni 2018, 18 Uhr
  • Seminarzentrum, Raum L 116, Freie Universität Berlin, Otto-von-Simson-Straße 26, 14195 Berlin (U-Bhf. Freie Universität/Thielplatz, U 3)

Programm