Springe direkt zu Inhalt

„Juristinnen und Juristen haben eine besondere Verantwortung“

Bundesjustizministerin Katarina Barley diskutierte am 17. Mai mit Studierenden über das Rosenburg-Projekt und geplante Konsequenzen für die Juristenausbildung

28.05.2018

Es ist ein verstörender Fall, den Katarina Barley vor rund 450 Zuhörerinnen und Zuhörern im vollbesetzten Hörsaal am Fachbereich Rechtswissenschaft vorstellte: Der deutsche Jurist Max Merten war während des Zweiten Weltkriegs mitverantwortlich dafür, dass im griechischen Thessaloniki fast die gesamte jüdische Gemeinde ausgeraubt und in Vernichtungslager deportiert wurde – mehr als 50.000 Menschen. Als Merten in den fünfziger Jahren in Griechenland als Kriegsverbrecher gesucht wurde, gewährte das Bundesjustizministerium ihm dienstlichen Unterschlupf: „Das ist durch nichts zu erklären oder zu rechtfertigen“, sagte Barley.

Kein Einzelfall, wie das sogenannte Rosenburg-Projekt – die 2012 auf Initiative der damaligen Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger eingerichtete unabhängige wissenschaftliche Kommission zur Untersuchung der Nachwirkungen des Nationalsozialismus auf die Justiz der frühen Bundesrepublik – zeigt: Nahezu alle NS-Juristen konnten ihre berufliche Karriere nach 1945 nahtlos fortsetzen. An der Freien Universität diskutierte Bundesjustizministerin Katarina Barley in der vergangenen Woche mit Jurastudierenden über die mögliche Konsequenzen aus dem „Rosenburg-Projekt“ und die Pläne der Großen Koalition, das deutsche Justizunrecht des 20. Jahrhunderts zum Pflichtstoff in der juristischen Ausbildung zu machen.

Bundesjustizministerium erwägt Änderung des Deutschen Richtergesetzes

Jurastudierende müssten sich eingehend mit dem deutschen Justizunrecht des 20. Jahrhunderts beschäftigen, sagte Katarina Barley vor dem überwiegend aus Studierenden bestehenden Publikum. Sie sprach sich deswegen dafür aus, das Justizunrecht des Nationalsozialismus und der DDR zum Pflichtstoff in der juristischen Ausbildung zu machen. Die Auseinandersetzung dürfe sich aber nicht auf das „Abhaken eines Grundlagenscheins“ beschränken, sagte die promovierte Juristin. Vielmehr sei es wichtig, „an den Hochschulen nicht nur handwerkliches Können zu vermitteln, sondern Studierende auch in einer wertegebundenen Grundhaltung zu festigen“.

Um die Beschäftigung mit NS- und DDR-Unrecht als Pflichtstoff einzuführen, erwägt die Ministerin eine Änderung des Deutschen Richtergesetzes. Zunächst sollen weitere Diskussionen darüber geführt werden, wie eine Vermittlung und Sensibilisierung der Studierenden sinnvoll gestaltet werden kann. Gerade heute, da rechtspopulistische Kräfte die Grenzen des Sagbaren unerträglich ausgeweitet hätten, sei es wichtig, Nachwuchsjuristinnen und -juristen darin zu bestärken, kritisches Urteilsvermögen und ethisches Verantwortungsbewusstsein zu entwickeln. Das sei in einem Fach, in dem es vor allem darum gehe, Normen und Vorschriften anzuwenden, von enormer Bedeutung.

Examensrelevanz und Rechtsgeschichte

Die anschließende von Staatsrechtsprofessor Markus Heintzen moderierte Diskussion mit dem Potsdamer Historiker Manfred Görtemaker, der gemeinsam mit dem Marburger Juristen Christoph Safferling die Rosenburg-Kommission geleitet hatte, und Hubert Rottleuthner – bis zu seiner Emeritierung 2012 Professor für Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie an der Freien Universität – zeigte den großen Diskussionsbedarf im Hörsaal. Und sie warf Fragen auf: Auf welche Weise kann die Auseinandersetzung mit den Nachwirkungen des Nationalsozialismus zum Gegenstand der juristischen Lehre gemacht werden? Ohne dass es angesichts des bereits übervollen Stundenplans der Jura-Studierenden zu der Frage komme: „Ist das examensrelevant?“

Ein Student merkte an, dass „Anstand und Haltung nicht die Währung“ seien, in der Erfolg im Studium gemessen werde. Das Kernproblem, das der intensiveren Befassung mit dem Nationalsozialismus entgegenstehe, sei aus seiner Sicht die „Durchökonomisierung des Studiums“ und das Abfragen immer größerer Lerninhalte in immer kürzerer Zeit.

In ihrem persönlichen und aus dem Stegreif gehaltenen Abschiedswort warb die Ministerin, die sich als „leidenschaftliche Juristin“ versteht, um das Engagement der Studierenden bei der Beschäftigung mit der Geschichte des eigenen Fachs. Sie bedankte sich für die differenzierten und engagierten Diskussionsbeiträge. Sie stimme unbedingt einem ihrer Vorredner zu: Auf die Frage, ob das Recht auf Werten gründen müsse, hatte ein Student auch seine Kommilitoninnen und Kommilitonen in die Pflicht genommen: Wenn man Recht als Konstrukt begreife, „an dem wir alle zusammen jeden Tag mitarbeiten“, dann hätten auch alle zusammen die Aufgabe, das Recht vor einer möglichen Konformmachung durch ein politisches Regime zu verteidigen.

Weitere Informationen

Das Rosenburg-Projekt

Um den Umfang der personellen Kontinuitäten und ihre inhaltlichen Folgen für die bundesdeutsche Gesetzgebung zu untersuchen, war 2012 auf Initiative der damaligen Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger eine unabhängige wissenschaftliche Kommission um den Potsdamer Historiker Manfred Görtemaker und den Marburger Juristen Christoph Safferling eingerichtet worden. Sie sollte sich mit den NS-Verstrickungen des Bundesjustizministeriums in der Frühphase der Bundesrepublik befassen, den strukturellen Gründen nachgehen, warum sich ein ganzer Berufsstand auf die Seite der Unrechtsherrschaft schlug, und warum nach Kriegsende ausgerechnet jene Juristen wieder eingesetzt wurden, die zuvor im Namen des Rechts willkürlich die Gesetze der Menschlichkeit verletzt hatten. Benannt wurde das Aufarbeitungsprojekt nach der Rosenburg, einer Villa in Bonn, in der das Justizministerium von 1950 bis 1973 seinen Sitz hatte.

In ihrem Schlussbericht kam die Kommission 2016 zu dem Ergebnis, dass die personellen Kontinuitäten das bisher bekannte Maß weit überschritten und den demokratischen Neuanfang erheblich erschwert hatten. Alte Parteigenossenschaft etwa hätte dazu beigetragen, dass der Anteil ehemaliger NSDAP- und SA-Mitglieder am Bundesjustizministerium 1950 bei 51 Prozent lag und Ende der fünfziger Jahre sogar auf fast 80 Prozent anstieg. Der Anteil der Juristen, die schon im Nationalsozialismus tätig gewesen waren, lag in den fünfziger Jahren an den Oberlandesgerichten bei fast 90 Prozent. Auch am Bundesverfassungsgericht hatten im Jahr 1964 von insgesamt 16 Richtern acht eine politisch belastete Vergangenheit. Begünstigt wurde die Straffreiheit des juristischen Personals durch Selbstamnestierung und Verjährungsfristen, an denen das Bundesjustizministerium selbst aktiv mitgewirkt hatte.