In Freiheit forschen
Die US-amerikanische Philosophin und Literaturwissenschaftlerin Judith Butler und die türkische Soziologin Nil Mutluer hielten an der Freien Universität die Eröffnungsreden bei der internationalen Konferenz des Netzwerks Scholars at Risk
11.05.2018
Im Januar 2016 leitete Nil Mutluer noch das Institut für Soziologie an der Nişantaşı-Universität in Istanbul. Nur einen Monat später hatte sie per Präsidialdekret ihre Professur verloren, weil sie sich gemeinsam mit mehr als 2000 anderen türkischen Hochschulangehörigen und Forschenden an der Petition „Academics for Peace“ beteiligt hatte. In dem Aufruf wurde die türkische Regierung friedlich, aber mit deutlichen Worten aufgefordert, den Krieg in den kurdischen Gebieten der Türkei zu beenden. Mutluer wurde wegen ihrer Unterschrift als Terroristin diffamiert, viele Unterzeichner verloren ihre Arbeit oder wurden verhaftet. Im Juli 2016 verließ Nil Mutluer die Türkei.
Forschende im Exil
Nil Mutluers Geschichte ist nur ein Beispiel dafür, wie weltweit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler politisch unter Druck geraten. Mehr als 250 Vorfälle in 35 Ländern binnen eines Jahres dokumentiert der jüngste Bericht des internationalen Netzwerks „Scholars at Risk“: von tätlicher Gewalt bis zu Mord, unter anderem in Syrien, Venezuela und China. Die Vereinigung „Scholars at Risk“ hilft in ihrer Heimat bedrohten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nicht nur, im Ausland Zuflucht zu finden, sondern setzt sich dafür ein, dass sie an einer Institution weiterforschen können.
Der internationale Kongress, der gemeinsam mit der Alexander von Humboldt-Stiftung und der Freien Universität Berlin veranstaltet wurde, versammelte auf dem Dahlemer Campus drei Tage lang 600 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus mehr als 70 Ländern. Ziel war es, das öffentliche Bewusstsein in freiheitlich-demokratischen Ländern für Bedrohungen der akademischen Freiheit zu schärfen.
Die Eröffnungsrednerin Judith Butler, Professorin am Department of Comparative Literature in Berkeley, Kalifornien, appellierte an die besondere Verantwortung von Universitäten weltweit, demokratische Werte zu verteidigen: „Wer gezwungen ist, sein Land zu verlassen“, sagte Butler im Max-Kade-Auditorium, „verliert nicht nur eine Arbeitsstelle, sondern auch die eigene Veröffentlichungssprache und die im Laufe eines Lebens erarbeite Zugehörigkeit zu einer Wissenschaftsgemeinschaft.“
Schutz der freien wissenschaftlichen Betätigung
Die Hochschule habe die Aufgabe, die notwendige Umgebung für unabhängiges Forschen und Denken zu schaffen. Wer an einer Universität forsche und lehre, müsse deshalb vor böswilligen Eingriffen geschützt sein, wenn die Universität ihrem Ideal vom Hort des freien Austauschs und freien Denkens nahekommen möchte: „Universitäten, die sich nicht gegen Angriffe von außen zur Wehr setzen, verlieren ihre Integrität“, sagte Butler.
In Demokratien beinhalte Wissenschaftsfreiheit auch die Möglichkeit, in Äußerungen den Staat in Frage zu stellen – ohne danach Sanktionen befürchten zu müssen. Universitäten, forderte Butler, müssten Schutzeinrichtungen sein: nicht nur vor dem Staat, sondern auch vor profitorientierten, ideologischen oder religiösen Partikularinteressen. Nur so könne die Hochschule ein Ort sein, an dem von externer Einflussnahme unbehelligte Gelehrte um die Wahrheit streiten und in der Öffentlichkeit auftreten können.
In autoritären Staaten sei es häufig so, dass der Ruf nach Freiheit in die Aufforderung zur Gewalt und der Ruf nach Frieden in Terrorismus umgedeutet würden. „Es kann ein Lehrplan sein, das Thema einer Doktorarbeit oder eine politische Haltung, die die Staatsmacht auf den Plan rufen.“ Schikane, Polizeigewalt, Zensur, Überwachung, Berufsverbot, Reisebeschränkung und Inhaftierung bedrohten dann das Auskommen oder sogar das Leben von Forschenden. Butler erinnerte hierbei an brasilianische Studierende, denen im November 2017 ein feministisches Forschungsprojekt Morddrohungen einbrachte, und an den Iraner Mohamed Habibi, der Anfang dieses Jahres wegen seines Einsatzes für Lehrergewerkschaften inhaftiert worden ist.
Weiterforschen mit dem Philip-Schwartz-Stipendium
„Wer kann schon mit Sicherheit sagen, dass die heute sicheren Häfen auch in Zukunft sicher bleiben?“, fragte Nil Mutluer die Kongressgäste. Dank eines Philipp-Schwartz-Stipendiums der Alexander von Humboldt-Stiftung forscht die Soziologin nun für zwei Jahr an der Humboldt-Universität. Benannt ist das Stipendium nach einem Pathologen jüdischer Herkunft, der 1933 vor den Nationalsozialisten aus Deutschland fliehen musste. In der Schweiz gründete er die „Zentralberatungsstelle für deutsche Gelehrte“, die vom Nationalsozialismus Verfolgte bei der Flucht in die Türkei unterstütze. Ausgerechnet in das Land, in dem heute Tausende Forschende mit Repressionen drangsaliert werden.
2011 ist die Freie Universität als erste deutsche Universität Mitglied im Netzwerk „Scholars at Risk“ geworden. Als internationale Netzwerkuniversität, die mit großer US-amerikanischer Unterstützung vor fast 70 Jahren gegründet worden ist, habe sie die Verpflichtung, das in sie investierte Vertrauen und Kapital auch zurückzugeben, sagte Klaus Hoffmann-Holland. Der Vizepräsident der Universität betonte, dass die Hochschule, die den Begriff der Freiheit im Motto trage, durch ihr Engagement für SAR ihrer Verantwortung nachkomme, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu helfen, die nicht in Freiheit forschen könnten. Derzeit hat die Freie Universität vier gefährdete Wissenschafterinnen und Wissenschaftler aufgenommen. Die Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde und Förderer und Ehemaligen der Freien Universität Berlin e.V. hat eine Kampagne gestartet, um in den kommenden fünf Jahren jährlich zwei bedrohten Forscherinnen oder Forschern einen Aufenthalt an der Freien Universität zu ermöglichen (mehr dazu im Infokasten unten).
Weitere Informationen
Anlässlich des 70. Gründungsjahres der Universität hat die Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universität Berlin e. V. eine Spendenkampagne gestartet. Ziel ist es, in den kommenden fünf Jahren jährlich zwei bedrohten Forscherinnen oder Forschern einen Aufenthalt an der Freien Universität zu ermöglichen und damit einen Ort und die Zeit, ihre wissenschaftliche Arbeit fortzusetzen – in Freiheit und ohne Angst vor Repressalien. Die Ernst-Reuter-Gesellschaft bittet hierfür um Ihre Unterstützung. Sie können spenden über die Crowdfunding-Plattform Startnext. Jeder Euro kommt an – jeder Euro zählt!