Sollen wir noch an die Liebe glauben?
Die Soziologin Eva Illouz unterhielt sich an der Freien Universität mit SPIEGEL-Journalistin Kerstin Kullmann über Liebe, emotionale Machtverhältnisse und Bridget Jones
18.12.2017
Langsam füllte sich der Hörsaal 1a, in dem Eva Illouz erwartet wird. Die zwischen Jerusalem und Paris pendelnde Soziologieprofessorin wird hier mit der Journalistin Kerstin Kullmann über „Liebe“ sprechen. „Ein Thema“, bemerkt Kerstin Kullmann lakonisch, „mit dem sich der eine oder andere im Saal vielleicht schon auskennt.“ Die knapp 300 Gäste lassen sich aber nichts anmerken.
Noch bevor der Gast des Abends sich gesetzt hatte, begann Kerstin Kullmann ohne Umschweife: „Wie kamen Sie dazu, die Liebe zu erforschen?“ Eine Frage, die Eva Illouz leicht beantworten kann: „Von jung auf habe ich die großen Werke der romantischen Literatur genauso wie Groschenromane verschlungen“, sagt sie. „Als Soziologin wollte ich dann herausfinden, ob die Liebe ein von sozialer Klassenzugehörigkeit gesteuertes Gefühl ist.“ Ihr Vorbild sei dabei niemand anderes als Karl Marx gewesen: Was Marx für die Waren gezeigt hat, wollte sie für romantische Liebe beweisen: dass sie von den gesellschaftlichen Verhältnissen geformt ist.
Die Soziologin geht davon aus, dass sich die berechnende Nüchternheit ökonomischen Handelns und der Absolutheitsanspruch wahrer Gefühle keineswegs unversöhnlich gegenüberstehen, im Gegenteil. Die romantische Liebe ist Eva Illouz zufolge in tiefer Befangenheit mit dem Kapitalismus verstrickt. „Konsum, Warenaustausch, Eigeninteresse und Gewinnmaximierung sind das bevorzugte Terrain der Liebe“, sagt die Wissenschaftlerin. Gerade heute sei die Logik des Marktes bis in die Liebe vorgedrungen. Fragen wie die, ob es sich lohnt, in eine Partnerschaft zu investieren, wenn die Dating-Börsen vielleicht noch bessere Optionen bereithalten, treiben viele Menschen um.
Motivgeschichte der romantischen Liebe
Um das weite Feld der Liebe zu strukturieren, nehmen sich Eva Illouz und Kerstin Kullmann eine Handvoll Liebesgeschichten vor, aus denen sie eine kleine Motivgeschichte der romantischen Liebe skizzieren. In der Abfolge verschiedener fiktionaler Werke ließen sich die historische Variabilität der Gefühle sowie ihre kulturelle Normierung und Habitualisierung erkennen. Für Illouz sind literarische Texte und Kinofilme ein Wissensarchiv der Liebe, in dem sich Wertvorstellungen und Machtstrukturen widerspiegeln. Denn noch bevor sich die Wissenschaft für die Liebe interessierte, wurde das Gefühl von Dichtern besungen, auf der Bühne inszeniert und in Romanen in seinen Wirkungsmechanismen beschrieben.
Dass die Liebe überhaupt als etwas Geschichtenhaftiges wahrgenommen werden könne, sei aber keine Selbstverständlichkeit. Platons Symposion etwa biete ein ganz anderes Verständnis von Liebe. Dessen Liebeskonzeption beschreibt Eva Illouz als eine Leiter mit aufsteigenden Sprossen: Von der untersten Stufe, der Fleischesliebe, gelange man über die Menschenliebe schließlich bis zur höchsten Stufe der entkörperlichten Liebe zum Guten selbst. So wies Platon die Liebe nicht ins Reich der Geschichten, sondern in das der Ideen. Diese Vorstellung von Liebe, so Eva Illouz, sei uns fremd geworden.
Erduldung des Hässlichen
Die Geschichten, die auch heute noch unserer Vorstellung von Liebe entsprechen, würden sich einer anderen Darstellung bedienen, sagt die Soziologin. „Das Narrativ der Liebe heißt die Überwindung von Hindernissen durch das Liebespaar.“ Dieses Motiv sei in verschiedenen Varianten spätestens seit der antiken Erzählung von Amor und Psyche in unserer Kultur präsent. So finde sich ihr Echo etwa in Die Schöne und das Biest aus dem 18. Jahrhundert. In dieser Geschichte bemisst sich die Tugend einer Frau darin, das Unerträgliche zu dulden. Mit ihrer Liebe soll die Protagonistin bewirken, dass sich das ganz im Wortsinn Hässliche – also Hassenswerte – in etwas Schönes und Gutes verwandelt. „Zum Schluss retten weibliche Tränen das Monster und verwandeln es in einen Prinzen.“
Diese grundlegende Einbildung einer möglichen Überwindung der männlichen Macht durch aufopfernde Hingabe habe dazu beigetragen, die Machtverhältnisse zu verschleiern. „Mithlfe von Geschichten wie Die Schöne und das Biest wurden Frauen dazu erzogen, ihre Unterordnung nicht nur zu ertragen, sondern sogar zu lieben“, sagt Eva Illouz. Darüber hinaus biete die Geschichte die Grundformel dessen, was sie als „heterosexuelles Tauschgeschäft“ kritisiert: wirtschaftliche Sicherheit und sozialer Status des Mannes gegen die bedingungslose Aufmerksamkeit und sexuelle Verfügbarkeit einer schönen Frau.
Monotheismus und romantische Liebe
Im 12. Jahrhundert begründete das Epos von Tristan und Isolde eine literarische Tradition der unglücklichen Liebe, die sich bis zu Figuren wie Emma Bovary, Anna Karenina und Effi Briest weiterverfolgen lasse. Für Tristan und Isoldes „große Liebe“ sei besonders das christliche Liebesideal, die Verehrung des einen Gottes, zum Vorbild geworden. Monotheismus und romantische Liebe, vermutet Illouz, sind Wahlverwandte. Für solch eine Liebe sei in einem Menschenleben nur einmal Platz. Die „Ideologie der großen Liebe“ kenne keinen Plural.
„Wenn Frauen heute von einem Mann aus dem Mittelalter umworben würden, was könnten sie erwarten?“, fragt Kerstin Kullmann zur Erheiterung des Publikums. „Man würde sagen, dass er sie sexuell belästigt“, antwortet Eva Illouz. „Er würde ein ‚Nein‘ sicher nicht akzeptieren.“ Gerade das verlange ja das ritterliche Werbungsritual: Der Mann bricht den Widerstand der Frau und beweist somit kraft seiner Beharrlichkeit die Beständigkeit und Verlässlichkeit seiner Liebe.
Lob der Freundschaft
Zeitgenössische Filme wie Friends with Benefits oder Bridget Jones würden hingegen die Zweischneidigkeit des „Zwangs zum Selbstregime“ vor Augen führen. Diese Filme handeln von modernen, emanzipierten Frauen, deren Unglück in einer Freiheit liegt, die Selbstzweifel und Unsicherheit mit sich bringt. Eva Illouz zufolge seien Frauen eher bereit, die Schuld für das Scheitern einer Beziehung auf sich zu nehmen. Sie trügen die ganze Bürde der „emotionalen Arbeit“, des Haushalts und der Kinder. „Unermüdlich arbeiten Frauen an sich selbst, unter Anleitung der Kosmetik-, Fitness- und Filmindustrie.“ Den Protagonistinnen heutiger Geschichten sei dieser Widerspruch aber bewusst: Wie können sie unabhängig und gleichberechtigt sein, wenn sie gleichzeitig ihren Beziehungs- und Kinderwunsch von emotional unverfügbaren oder bindungsunwilligen Männern abhängig machen müssen?
Am Schluss stellt sich die große Frage des Abends: Sollen wir trotzdem noch an die Liebe glauben? Für Eva Illouz lässt sie sich nur in zwei Teilen beantworten: „Glaube ich, dass die Liebe wirklich existiert? Ja, natürlich. Glaube ich, dass sie so sein muss, wie sie ist? Nein!“ Ein alternatives Zukunftsmodell der Liebe – eine neue Ethik der sexuellen und emotionalen Verhältnisse – sieht die Soziologin in der Freundschaft. Die Freundschaft, „die große Außenseiterin der Liebe“, sei frei von den Demütigungen, Leiden und Dramen, die die romantische Liebe kennzeichneten. Sie habe auch kein Verfallsdatum und werde nicht annährend so oft für ein Hirngespinst oder einen Wahn gehalten wie die Liebe.