Das Projekt mathematische Weltverbesserung feiert Geburtstag
Das Forschungszentrum MATHEON feierte mit einem Festakt am 15. November 15-jähriges Bestehen
30.11.2017
Wenn man sich so umsieht, hat man zunächst den Eindruck, dass unser Alltag in geordneten Bahnen verläuft: Züge fahren auf den für sie vorgesehenen Gleisen, mit dem Smartphone können wir immer und überall im Netz surfen, und die moderne Medizin kann es mit einer Vielzahl von Krankheiten aufnehmen. Doch bei genauerem Hinsehen tun sich Fehlstellen auf: Züge quietschen in den Kurven unerträglich schrill, der Handyempfang lässt oft zu wünschen übrig, und manchmal erschwert ein unscharfes Bild des Computertomografen die Diagnose.
Der Welt solche und andere Unzulänglichkeiten auszutreiben – und zwar mit den Waffen der Mathematik – das hat sich das MATHEON vorgenommen. Ziel des Berliner Forschungszentrums ist die Nutzbarmachung mathematischer Lösungen für komplexe Anwendungsprobleme aus Technik, Medizin und Umwelt. Es versteht sich als Motor des technologischen und wirtschaftlichen Fortschritts und möchte zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen beitragen.
„MATHEON – Mathematik in Schüsseltechnologien“ ist ein gemeinsames Forschungszentrum der Freien Universität, der Humboldt-Universität und der Technischen Universität Berlin sowie des Zuse-Instituts Berlin (ZIB) und des Weierstraß-Instituts für Angewandte Analysis und Stochastik (WIAS). 2002 wurde es als Forschungszentrum der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gegründet. Seit 2014 wird es im Rahmen des Einstein-Zentrums für Mathematik Berlin ECMath von der Einstein Stiftung Berlin gefördert. Mit einem Festakt im Kleistsaal der Urania feierte das MATHEON nun sein 15-jähriges Bestehen.
Es gibt Anlass zum Feiern – und es wird gefeiert
Nach einer launigen Begrüßung durch den Youtube-Star Masud Akbarzadeh, der die zahlreichen Gäste auf den heiteren Ton des Abends einstimmte, beschrieb Martin Skutella, Professor für Mathematik an der Technischen Universität, was alles zum Projekt der mathematischen Weltverbesserung gehöre – etwa die Optimierung von Fahrplänen im städtischen Personennahverkehr: Für die Berliner Verkehrsbetriebe BVG konnte das MATHEON die U-Bahn-Taktung verbessern und die Umsteigezeiten um 30 Prozent reduzieren. Bei mehreren zehntausend Bus- und Bahnfahrten pro Tag war dafür die Entwicklung eines komplexen Modells gegenseitiger Abhängigkeiten von Verkehrsmitteln notwendig.
Auch in vielen alltäglichen Dingen, die unser Leben erleichtern, verbirgt sich meist unbemerkt die Arbeit von Mathematikerinnen und Mathematikern. Dass die Bremsen von Zügen heute nicht mehr ganz so trommelfellzerreißend quietschen, ist ebenso der Mathematik zu verdanken wie die optimierte Frequenzverteilung von Funkstationen für einen besseren Handyempfang. Ob bei der Verschlüsselung des Datenverkehrs im Internet, effizienteren Solarzellen, besseren Bildgebungsverfahren in der Computertomografie oder realistischeren 3D-Animationen im Hollywoodfilm – die Arbeit des Forschungszentrums betrifft viele Bereiche unseres Lebens.
Drei der Gründer des MATHEON – die Mathematikprofessoren Peter Deuflhard, Martin Grötschel und Volker Mehrmann – stellten im weiteren Verlauf des Abends im Gespräch mit Professor Christof Schütte, Mathematikprofessor der Freien Universität und Präsident des Zuse-Instituts, das Geburtstagskind vor. Anhand einiger Zahlen – Jahreszahlen, Kennziffern, Meilensteine – zeichneten sie die Geschichte des MATHEON nach: 230 geförderte Projekte, derzeit 223 Mitglieder, 1250 Gastwissenschaftler, 2650 Publikationen, 200 Promotionen, 130 Industriekooperationen und 11 ausgegründete Firmen, die in der freien Wirtschaft erfolgreich sind. Forschungsgelder in Höhe von 100 Millionen Euro sind in 15 Jahren geflossen und mehr als hundert MATHEON-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter auf eine Professur berufen worden. In ihrem Grußwort bezeichnete DFG-Generalsekretärin Dorothee Dzwonnek das MATHEON als Prototypen für einen Cluster, bevor es die Exzellenzinitiative überhaupt gab.
MATHEON löst Probleme – und ermöglicht Karrieren
Es folgte ein „Math Career Slam“, bei dem drei Absolventen der in der Exzellenzinitiative von der DFG geförderten Graduiertenschule Berlin Mathematical School von ihrem Werdegang berichteten. Denn auch um die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses hat sich das MATHEON verdient gemacht: In der Berlin Mathematical School werden international herausragende Studierende besonders gefördert und auf Promotionskurs gebracht.
Einer ihrer Absolventen ist Tim Conrad, heute Professor für Computational Proteomics am Institut für Mathematik der Freien Universität. Begeistert hob er die weltweit anerkannte Bedeutung des MATHEON für den Wissenschaftsstandort Berlin hervor: „In Berlin ist etwas entstanden, an das ich glaube. Hier passiert etwas, das es in Deutschland nur ganz selten gibt.“ In seiner Dissertation entwickelte Conrad eine Methode, mit der man anhand eines Bluttropfens Krebsdiagnosen durchführen kann. Nach zwei Firmengründungen und einer erfolgreichen Promotion wurde Conrad Projektleiter der Arbeitsgruppe Computational Proteomics.
Kluge Köpfe auf schnellen Beinen
Sportlich ging es anschließend beim „MATHEatlON“ zu. Um auch junge Generationen immer wieder neu für Mathematik zu begeistern, veranstaltet das MATHEON seit 2009 den sportlichen Mathe-Wettkampf, einen vom Biathlon inspirierter Mischsport, der Mittelstreckenlauf mit dem Lösen mathematischer Denkaufgaben kombiniert. Ziel des MATHEatlON ist es, dass es Kindern genau so viel Spaß macht, an Brüchen, Ableitungen oder der Mengenlehre herumzuknabbern, wie auf Kaugummis. An diesem Abend wurde der MATHEatlON von der Tartanbahn auf zwei bühnengerechte Laufbänder befördert. Zwei ungleiche Teams à fünf Personen – Schülerinnen und Schüler gegen Matheon-Wissenschaftler – maßen in dem Wettstreit ihre intellektuellen und läuferischen Fähigkeiten. Die Nachwuchsförderung trug Früchte: Unter dem Beifall der etwa 300 Gäste konnte die Juniormannschaft den Kampf leicht für sich entscheiden.
Am Ende der Jubiläumsveranstaltung diskutierten die Professoren Günter M. Ziegler von der Freien Universität, Michael Hintermüller von der Humboldt-Universität und Martin Skutella die Zukunft der Berliner Mathematik. Im Moment befinde sich das MATHEON in einer Übergangsphase: „2014 hat die DFG genug Alimente für das Kind gezahlt“, sagt Martin Skutella. Seit das MATHEON vom Einstein-Zentrum gefördert wird, muss es mit einem knapperen Budget auskommen. Doch die Zukunft lässt hoffen: Von Januar 2019 an soll mit dem Exzellenzcluster „MATH+“, einem großen Berliner Zentrum für Mathematische Forschung, die Berliner Erfolgsgeschichte fortgesetzt werden: „Wir bündeln alle unsere Kräfte für einen ganz großen Wurf, der Forschung und Ausbildung vereint, und selbstbewusst und dynamisch aufgestellt ist, um sich den mathematischen Chancen und Herausforderungen der Zukunft zu stellen – das ist MATH+“, sagt Günter M. Ziegler, der sich als designierter Sprecher von MATH+ gemeinsam mit seinen Kollegen dem Wettbewerb der nächsten Exzellenzstrategie stellt. „Wir freuen uns darauf!“