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„Die Bevölkerung muss selbst aktiv werden“

Die an der Freien Universität angesiedelte Katastrophenforschungsstelle feierte 30-jähriges Bestehen

28.09.2017

Wenn in Mexiko die Erde bebt oder auf Puerto Rico ein Hurrikan tobt, heißt das noch lange nicht, dass auch Menschen zu Schaden kommen müssen. Entscheidend ist nach Expertenmeinung, wie gut die betroffene Gesellschaft sich auf diese mittlerweile vorhersehbaren Ereignisse vorbereitet hat. Warum dies in einigen Regionen besser gelingt als in anderen, und wie Bürger, Organisationen und Behörden sich auf solche Phänomene vorbereiten, untersucht die Katastrophenforschungsstelle (KFS) an der Freien Universität Berlin. Außerdem berät sie Behörden, Organisationen und die breite Öffentlichkeit über Vorbereitungs- und Schutzmaßnahmen. In diesen Tagen feierte die KFS, die 1987 in Kiel gegründet worden und 2009 an die Freien Universität umgezogen ist, 30-jähriges Bestehen.

Zum Paradigmenwechsel beigetragen

„Unser Programm lautet: Zeigen, wo die Lücken sind und was möglich wäre, wenn die Gesellschaft Katastrophen vermeiden will“, sagte Martin Voss, Professor für Sozialwissenschaftliche Katastrophenforschung und Leiter der KFS, zur Eröffnung der Festveranstaltung. Die KFS habe mit ihrer Arbeit in den vergangenen 30 Jahren zu einem Paradigmenwechsel beigetragen: „Katastrophen sind ein Ressourcen- und ein Organisationsproblem“, sagte Voss. Längst würden sie nicht mehr als Schicksal oder gar Strafe empfunden. Vielmehr frage man zunehmend nach ihren gesellschaftlichen Ursachen.

Gegründet hatte die Katastrophenforschungsstelle 1987 der Kieler Soziologe Lars Clausen. Er war schon 1972 von der Schutzkommission des Bundesinnenministeriums beauftragt worden, das menschliche Verhalten in Katastrophenfällen zu erforschen, um der Kommission Vorschläge zur Verbesserung von Prävention und Schutz vor Katastrophen unterbreiten zu können. 15 Jahre nach der Gründung konnte er schließlich für diesen Themenbereich eine eigene Forschungsstelle an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel einrichten. Aufgrund von Sparmaßnahmen suchte das Institut jedoch bald eine neue Heimat, die es 2009 an der Freien Universität fand. Deren Präsident, Professor Peter-André Alt, sagte bei der Festveranstaltung, die Arbeit der KFS sei heute, insbesondere mit Blick auf sich rapide verändernde globale Klima- und folglich Lebensbedingungen, wichtiger denn je: „Ihnen, sehr geehrter Herr Professor Voss, gebührt auch eine persönliche Gratulation. Seit vielen Jahren setzen Sie sich für die Katastrophenforschung ein, prägen sie, entwickeln sie weiter. Ihr Engagement und Ihre Dynamik sorgen dafür, dass die KFS den rasant wachsenden und wechselnden Herausforderungen der globalen Gesellschaft in ihrer Forschungsausrichtung stets gerecht zu werden vermag.“

Bevölkerung muss selbst aktiv werden

Die Katastrophen-Meldungen der vergangenen Wochen über Wirbelstürme, Terroranschläge und Atombombentests boten reichlich Anlass, um im Rahmen der Jubiläumsveranstaltung über einen nachhaltigen Bevölkerungsschutz zu diskutieren. Die Teilnehmer einer Diskussionsrunde während der Festveranstaltung betonten, dass in der deutschen Katastrophenvorsorge noch einiges getan werden müsse. Zu sehr sei die Prävention bislang durch „paternalistisches Denken“ geprägt, meinte etwa Johannes Richert, Generalsekretär des Deutschen Roten Kreuzes.

Die Bevölkerung dürfe Hilfe aber nicht ausschließlich vom Staat erwarten, sondern müsse selbst aktiv werden. „Wir müssen uns ehrlich machen und dürfen der Bevölkerung keine Sicherheit vorgaukeln, die nicht existiert“, sagte Richert. Dem stimmte Wolfram Geier vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe zu. „Wir haben die Menschen viel zu lange nicht in die Pflicht genommen. Ein Erste-Hilfe-Kurs beim Führerschein, und das war es“, sagte er. Die Katastrophenvorsorge müsse ähnlich dem Klimawandel als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden, ressort- und behördenübergreifend.

Viele Themen für die Zukunft

Auch Albrecht Broemme, Präsident des Technischen Hilfswerks, sagte, er sehe viele Anzeichen dafür, dass Deutschland an nachhaltiger Prävention nicht interessiert sei. So sei beispielsweise das automatische Bremssystem für LKW noch nicht verpflichtend, obwohl es viele Unfälle verhindern könnte. Auch die Kommunikation mit der Bevölkerung bewerteten die Experten kritisch. Nebensächliches würde medial dramatisiert, während Warnungen vor tatsächlichen Gefahren zu kurz kämen. Der Tenor der Runde: Für Martin Voss und sein Team von der KFS gäbe es noch viel zu tun.

Martin Voss sieht in der zunehmenden Komplexität der globalen, politischen Lage die größte Herausforderung für die Zukunft. „Eine Dürrekatastrophe in der Sahara kann Auswirkungen auf die Menschen in Westeuropa haben“, sagt er. Neben Bedrohungen wie Klimawandel und Terrorismus, die öffentlich besonders stark wahrgenommen werden, befasst sich die KFS auch mit Szenarien, in denen das Stromnetz ausfällt oder eine globale Finanzkrise ausbricht; in aktuellen Forschungsarbeiten geht es um den Themenkomplex Flucht und Fluchtursachen. Nach 30 Jahren steht die Katastrophenforschung somit vor alten und vielen neuen Feldern, die es zu erforschen gilt.