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„Die Wirklichkeit macht der Literatur unerhörte Konkurrenz“

Der italienische Schriftsteller Claudio Magris ist Ehrendoktor des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität

24.05.2017

Dekanin Professorin Claudia Olk verlieh Claudio Magris die Ehrendoktorwürde des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften

Dekanin Professorin Claudia Olk verlieh Claudio Magris die Ehrendoktorwürde des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften
Bildquelle: Nora Lessing

Claudio Magris sei – ganz im Sinne und in der Tradition des deutschen Idealismus – „Dichter und Denker zugleich“, begrüßte der Präsident der Freien Universität Professor Peter-André Alt den italienischen Autor, Essayist, Übersetzer und Journalist. Im Idealfall trügen Schriftsteller zum Verständnis der Welt bei und ließen den Leser Bekanntschaft mit dem „Fremden“ machen, vermittelten Sinn und Verständnis für „das Andere“, sagte Alt. In Zeiten, in denen die Grenzen in den Köpfen drohten, sich zu verfestigen, brauche es Verlässlichkeit der Information. Und nicht immer machten die komplexen Botschaften der Wissenschaft und Kunst die Welt in diesem Sinne einfacher. Denker wie der italienische Schriftsteller Magris stünden für ein solches komplexes Denken und eine Akzeptanz der Pluralität.

NIe hätte er gedacht, sagte Claudio Magris vor dem Festpublikum, dass ihm einmal eine solche Ehre zuteil werden würde.

NIe hätte er gedacht, sagte Claudio Magris vor dem Festpublikum, dass ihm einmal eine solche Ehre zuteil werden würde.
Bildquelle: Nora Lessing

Zeitzeuge und Grenzüberschreiter

Auch die Dekanin des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften Claudia Olk betonte in ihrer Rede, dass es sich bei Claudio Magris um einen Autor handele, der – wie es dem Wesen der Literatur entspreche –, Grenzen überschreite und stets eine transnationale Perspektive eingenommen habe. Zudem sei Magris ein Zeuge der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert. Dabei habe er miterleben müssen, dass sich Grenzen nicht immer nur in die Freiheit öffneten, sondern zuweilen auch in die Barbarei. Durch klarsichtige Analysen habe Magris in Hinblick auf die österreichische Literatur ein ganz neues Forschungsfeld eröffnet. Auch habe er den Einfluss jüdischer Philosophie auf die mitteleuropäische Literatur umfassend untersucht. Mit der Verleihung der Ehrendoktorwürde ehre die Freie Universität einen Autor und Wissenschaftler, der die deutschsprachige Literatur der Moderne in kulturell grenzüberschreitender Weise gewürdigt habe, sagte Claudia Olk.

Magris' Werk lasse sich leichter katalogisieren als charakterisieren

In seiner Laudatio mit dem Titel „Wo liegt unser Ithaka?“ betonte der Direktor des Italienzentrums, Professor Bernhard Huß, wie facettenreich Magris‘ Werk sei. Es lasse sich leichter katalogisieren als charakterisieren. Magris sei niemals „nur“ Essayschreiber, Journalist, Romancier, sondern überschreite immer wieder Genre-Grenzen. In seinen Schriften zeige er die niemals aufzulösende Spannung zwischen der Sehnsucht, Totalität zu erfassen und der Angst des Nihilismus auf, widme sich immer wieder dem Problem der individuellen und der kollektiven Selbstfindung. Der Begriff der Grenze in seinen unterschiedlichen Bedeutungsebenen, so Huß, sei für das Werk Claudio Magris’ von zentraler Bedeutung. Einerseits würden hier – etwa kulturelle – Grenzen überwunden. Andererseits gebe es „ohne Grenze“, so Bernhard Huß, „keine Identität, nicht einmal eine reale Existenzmöglichkeit.“

Eine klare Syntax und die Komplexität der Welt schlössen sich nicht aus, sagt Magris

Nie habe er, als er 1968 erstmals eine Vorlesung an der Freien Universität gehalten habe, gedacht, dass ihm einmal eine solche Ehrung zuteil werden würde, bedankte sich der sichtlich gerührte Claudio Magris für die erhaltene Auszeichnung. Statt einer „richtigen literaturwissenschaftlichen Vorlesung“ wolle er in seinem Festvortrag „Schreiben, finden und erfinden“ etwas „aus der Werkstatt des Schreibens“ vortragen. Er sei überzeugt, dass eine klare Syntax die Komplexität der Welt nicht ausschließe. Sich auseinanderzusetzen und Klarheit zu verschaffen, erfordere viel Mühe. Am Ende eines solchen Prozesses sei der Schreibende jedoch moralisch verpflichtet „ja oder nein“ zu etwas zu sagen.

Vermittlerin Literatur

„Das Schreiben ist ein Fluss, der stets seine Dämme sprengen kann. Das Schreiben überholt uns“, so Magris. Es gebe so etwas wie eine menschliche Wahrheit, die sich nicht allein mit historischen Fakten ausdrücken lasse, sondern für die es die Vermittlungsinstanz der Literatur brauche. Zumeist gingen Bücher von realen Begebenheiten aus, denn das Leben sei originell, wie Mark Twain mit seinem Ausspruch „truth is stranger than fiction“ geltend gemacht habe. „Die Wirklichkeit macht der Literatur ungeheure Konkurrenz“, sagte Magris. Mitunter sei das Reale gar nicht zu Papier zu bringen, da es zu kitschig oder zu unwahrscheinlich erscheine. Im Allgemeinen werde geschrieben, „um sich von der Unmöglichkeit des Lebens abzulenken, um etwas zu verteidigen, das Antlitz geliebter Menschen zu behalten, um eine Arche Noah zu bauen; um alles zu retten, was man liebt“. Der Mensch komme aus dem Staub und in den Staub müsse er zurück, so Magris. „Aber zwischendurch kann er doch wenigstens ein Gläschen Wein trinken.“