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„Aufbruchsatmosphäre in tausenden Schwarzweißfotos“

Wissenschaftler und Studierende der Freien Universität haben eine Ausstellung zur Geschichte der documenta konzipiert und zeigen sie in China

07.04.2017

Sie gilt als eine der bedeutendsten Kunstausstellungen der Welt: die documenta. 1955 in Kassel von Arnold Bode ins Leben gerufen, zeigt die Schau im Fünf-Jahres-Turnus je 100 Tage lang zeitgenössische Kunst. Gegründet worden war sie ursprünglich auch, um in der NS-Zeit als „entartet“ diffamierte Künstler zu rehabilitieren. Schnell avancierte sie zu einer Dokumentation der Gegenwartskunst, die zuletzt eine Dreiviertelmillion Besucher nach Kassel lockte. Die Geschichte der documenta haben Professor Klaus Siebenhaar vom Institut für Kultur- und Medienmanagement der Freien Universität, Co-Kuratorin und wissenschaftlich-künstlerische Mitarbeiterin Mona Stehle und ein studentisches Team aus Anna Aulich und Louise von Plessen in einer Ausstellung nachgezeichnet. Die Schau „The Myth of documenta – Arnold Bode and His Heirs" wird derzeit in China gezeigt und läuft so parallel zur 14. documenta, die am 8. April zunächst in Athen und am 10. Juni in Kassel eröffnet wird.

Herr Professor Siebenhaar, ein Jahr lang haben Sie, Mona Stehle und ein Team aus studentischen Mitarbeitern die Ausstellung „The Myth of documenta“ vorbereitet, die nun in Peking und Shanghai gezeigt wird. Wie kam es dazu?

Ich habe im September 2015 in China einen mehrstündigen Vortrag über die Geschichte der documenta gehalten. Hintergrund ist, dass ich selbst aus Kassel stamme und mit dieser Ausstellungsreihe groß geworden bin – sie ist ein entscheidender Teil meiner künstlerisch-kulturellen Sozialisation, und ich habe seit 1968 jede einzelne Ausgabe besucht. Das chinesische Publikum reagierte sehr emotional auf den Vortrag und war fasziniert. So trat man im Anschluss mit der Idee an mich heran, die erste museale Gesamtausstellung über die documenta zu organisieren. Ich fragte bei der Geschäftsführerin der documenta, Annette Kulenkampff, an, ob sie ein solches Projekt unterstützen würde. Sie war gleich begeistert. So haben drei meiner Studierenden und ich uns in die Vorbereitungen gestürzt. Daraus wurde „The Myth of documenta", eine sehr umfangreiche Ausstellung, die Sie sich in ihrer Dimension ein bisschen so vorstellen müssen, als würde man den Hamburger Bahnhof und die Berliner Nationalgalerie gleichzeitig bespielen.

Wie sind Sie beim Kuratieren vorgegangen?

Die documenta hat ein eigenes Archiv, in dem praktisch alle Unterlagen seit 1955 aufbewahrt werden: Skizzen, Briefe und Fotos. Aus diesem Material mussten wir auszuwählen und ein tragfähiges Konzept entwickeln, denn wir wollten keine chronologische Dokumentation. Außerdem wollten wir die Ausstellung so gestalten, dass sie einem chinesischen Publikum, das mit den Gesamtzusammenhängen nicht so vertraut ist, zugänglich wird. So haben wir die Geschichte der documenta in vier thematische Blöcke unterteilt. Im ersten Block fassen wir die ersten drei Ausgaben zusammen. Er ist überschrieben mit „Die Rekonstruktion der Moderne nach der NS-Zeit“. Der zweite Teil beschäftigt sich unter dem Titel „Transformation“ mit der westlichen Kulturrevolution und zeigt unter anderem die Konzeptkunst der sechziger Jahre. Im dritten thematischen Block stellen wir unter dem Titel „Anything Goes“ das aus, was wir heute unter dem Begriff Postmoderne fassen und was in der neunten documenta seinen Höhepunkt erfuhr. Im vierten Teil schließlich ziehen wir mit Blick auf das 20. Jahrhundert Bilanz. Hier steht die documenta ganz im Zeichen eines globalen Diskurses und offenbart eine Verwissenschaftlichung der Kunst, bei der das Politische und Themen wie Feminismus und Postkolonialismus zu integralen Bestandteilen der Ausstellung werden.

Was sind Ihre persönlichen Highlights in der Ausstellung, und wie wurde sie in China aufgenommen?

Für mich persönlich war die Versenkung in hunderte, wenn nicht tausende Schwarzweißfotos aus der Anfangszeit der documenta besonders berührend. Da transportiert sich diese Aufbruchsatmosphäre, das Flair einer Zeit, in der die Jugend ganz intensiv über Kunst und Zukunft nachdachte. Etwas absolut Magisches in der Ausstellung ist der Originalstein aus dem Beuys-Projekt „7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung". Wir haben den Stein separat in chinesischer Erde in einem Raum aufgestellt, in dem man sich auch zwei Dokumentarfilme ansehen kann, die Beuys bei der Arbeit zeigen. Die Stimmung dort müssen Sie sich ein bisschen vorstellen wie bei Stanley Kubricks Space Odyssey. Hier kann man meiner Meinung nach das erleben, was Walter Benjamin mit dem Begriff der Aura beschrieben hat.

Das Wunderbarste an dem gesamten Projekt war aber natürlich der Prozess des Werdens als solcher. Nach einem Jahr Vorbereitung haben wir die Ausstellung sieben Tage und sieben Nächte lang aufgebaut, dann gab es einen staatstragenden Empfang zur Eröffnung. Da waren wir am Ende schon sehr zufrieden. Die Resonanz schließlich ist genauso, wie wir sie uns gewünscht haben. Bislang waren etwa 35.000 Besucher da, demnächst wird die Ausstellung aus den Ausstellungsräumen des CAFA Art Museum in Peking nach Shanghai umziehen.

Gibt es Pläne, „The Myth of documenta“ auch in Deutschland zu zeigen?

Die weitere Geschichte dieses Projekts bleibt ein Abenteuer. Es gab Anfragen aus anderen chinesischen Städten und aus Florenz und natürlich wäre es auch schön, wenn wir die Ausstellung demnächst auch in Deutschland zeigen könnten.

Die Fragen stellte Nora Lessing

Weitere Informationen

Am Sonnabend, 8. April 2017, eröffnet die documenta zunächst in Athen. An mehr als 40 verschiedenen öffentlichen Orten – Plätzen, Kinos, Universitätsstandorten und Bibliotheken – werden mehr als 160 internationale Künstlerinnen und Künstler ihre für die documenta 14 konzipierten Arbeiten vorstellen. Am 10. Juni folgt die Eröffnung in Kassel.