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Eine Erschütterung der europäischen Wissenschaftslandschaft

Die Folgen des Brexit für die Hochschulen in Europa war das Thema einer Podiumsdiskussion an der Freien Universität

16.12.2016

Sierd Cloetingh zeichnete in seinem Einführungsvortrag nach, wie verfolchten die Wissenschaftsinstitutionen der EU sind.

Sierd Cloetingh zeichnete in seinem Einführungsvortrag nach, wie verfolchten die Wissenschaftsinstitutionen der EU sind.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Günter M. Ziegler, Professor für Mathematik an der Freien Universität Berlin, in der Diskussion.

Günter M. Ziegler, Professor für Mathematik an der Freien Universität Berlin, in der Diskussion.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Barbara Ischinger, die ehemalige Direktorin des Bereichs Bildung bei der OECD in Paris und seit 2015 IC-Mitglied, in der Diskussion.

Barbara Ischinger, die ehemalige Direktorin des Bereichs Bildung bei der OECD in Paris und seit 2015 IC-Mitglied, in der Diskussion.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Sir Ivor Crewe, Mitglied im IC der Freien Universität und britischer Politikwissenschaftler.

Sir Ivor Crewe, Mitglied im IC der Freien Universität und britischer Politikwissenschaftler.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung von Universitäten wurde in der Diskussion mit dem Publikum aufgeworfen. Im Bild: IC-Mitglied Sijbolt Noorda.

Die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung von Universitäten wurde in der Diskussion mit dem Publikum aufgeworfen. Im Bild: IC-Mitglied Sijbolt Noorda.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Für die allermeisten britischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler war ein Ausstieg aus der Europäischen Union schlicht nicht vorstellbar: 90 Prozent gaben bei einer Umfrage von „Times Higher Education“ (THE) vor dem Referendum an, für einen Verbleib in der Europäischen Union stimmen zu wollen. Daher war der Schock über das Abstimmungsergebnis am 23. Juni, bei dem knapp 52 Prozent der Briten für einen „Brexit“ votiert hatten, groß. Doch welche Auswirkungen hat das Ergebnis auf die britischen Hochschulen und die europäische Forschungslandschaft? Das war das Thema einer Podiumsdiskussion mit Bildungsexperten und Wissenschaftlern an der Freien Universität Berlin anlässlich des zehnten Treffens des International Council (IC).

Es war ein dichtes europäisches Wissenschaftsnetzwerk, das Sierd Cloetingh in seinem Einführungsvortrag zeichnete, geprägt durch Kooperationen und Austausch und gemeinsame Forschungsförderung – wie etwa ERC-Grants. Der Geowissenschaftler und Mitglied im IC der Freien Universität ist seit 2014 Präsident der Academia Europeana, einer gesamteuropäischen Akademie, und ist für seine Verdienste um die europäische Wissenschaftskooperation vielfach ausgezeichnet worden. Ein Ausstieg Großbritanniens würde sich auf die englische Forschungslandschaft auswirken, erklärte Cloetingh. Derzeit werde ein beträchtlicher Anteil der erfolgreichen ERC-Grant-Anträge von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in diesem Land gestellt, sagte er, darunter auch zahlreiche von Nicht-Britinnen und -Briten.

Seinen Status als Wissenschaftsnation verdanke Großbritannien vor allem auch der EU, erklärte Sir Ivor Crewe, ebenfalls Mitglied im IC der Freien Universität und einer der bekanntesten britischen Politikwissenschaftler. Durch die EU-Mittel habe man in den letzten Jahren kompensieren können, dass die britischen Hochschulen immer weniger staatliche Unterstützung erhalten hätten.

Verunsicherung von Wissenschaftlern und Studierenden

Doch bedeutet ein Austritt aus der Europäischen Union auch einen veränderten Status innerhalb der europäischen Forschungsförderung? Dies sei zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht absehbar, sagte Sierd Cloetingh. Es gäbe Länder wie die Schweiz, die einen assoziierten Status hätten und so ebenfalls vom System profitierten. Cloetingh machte auf eine weitere mögliche Veränderung aufmerksam: Die britische Wissenschaft könnte auch aus den Richtlinien etwa für Gentechnik oder klinische Studien austreten und den rechtlichen Rahmen erweitern mit mehr Flexibilität für Forschungsprojekte.

Daneben gebe es weitere offene Fragen: etwa welchen Aufenthaltsstatus Studierende aus anderen europäischen Ländern nach dem Brexit hätten. Auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem kontinentalen Europa, die an britischen Hochschulen lehrten und forschten, seien verunsichert, sagte der Präsident der Academia Europeana.

Die anti-intellektuelle Dimension des Brexit

„Die EU ist nicht nur ein gemeinsamer Markt“, sagte Cloetingh. Und Crewe ergänzte: „Britische Wissenschaftler werden in jedem Fall weiter mit den Kollegen im kontinentalen Europa kooperieren“, auch wenn sich die Rahmenbedingungen dafür veränderten. Es müsse nun darum gehen, die Gemeinschaft ideell aufrechtzuerhalten. Denn hier liege für ihn das derzeit wichtigste Problem: Das Brexit-Votum habe die Spaltung der britischen Gesellschaft offenbar werden lassen, denn es verfüge über eine starke „anti-intellektuelle Dimension“. Der Erfolg der Populisten habe gezeigt, dass Teile der Bevölkerung wissenschaftlichen Experten nicht mehr vertrauten. Hier müssten die Universitäten gemeinsam ansetzen.

Dies sah Günter M. Ziegler, Professor für Mathematik an der Freien Universität Berlin, als Kommunikationsaufgabe der Hochschulen: „A lot of things are difficult to explain, but we have a lot of good stories to tell“ – Zwar seien viele Dinge schwer zu erklären, aber es gebe eine Menge guter Geschichten zu erzählen.

Die Verantwortung von Wissenschaftseinrichtungen

Barbara Ischinger, die ehemalige Direktorin des Bereichs Bildung bei der OECD in Paris und seit 2015 IC-Mitglied, erinnerte an die gesellschaftliche Verantwortung der Universitäten. Diese müssten die Hochschulen wieder stärker wahrnehmen und auch der Lehre als umfassende Ausbildung stärkere Aufmerksamkeit widmen. Auch „lebenlanges Lernen“ sei ein Thema für die Universitäten, die dazu beitragen müssten, den Menschen „Ängste zu nehmen“.

Die gesellschaftliche Verantwortung von Wissenschaftseinrichtungen und die Frage, ob die Empfänglichkeit für populistische Bewegungen weltweit auch ein Ergebnis des Versagens der universitär ausgebildeten Eliten sei, stand im Mittelpunkt der Diskussion mit dem Publikum. Wenn also bei dieser Veranstaltung auch noch nicht ganz klar war, wie sich die europäische Forschungslandschaft tatsächlich verändern wird, waren sich die Diskutanten einig: Der Brexit sei ein Warnsignal, es müsse darum gehen, das Vertrauen in Bildung und Wissenschaft wieder zu stärken.

Weitere Informationen

International Council

Der International Council der Freien Universität Berlin ist ein externes Gremium, das das Präsidium insbesondere in Fragen, die das weiterentwickelte, erneut prämierte Zukunftskonzept und dessen Umsetzung betreffen, berät. Der jährlich tagende Council dient zudem als Forum zur Diskussion aktueller Entwicklungen im Hochschulmanagement und der Internationalisierung von Universitäten. Derzeit gehören dem Gremium 21 renommierte Wissenschaftler und Bildungsexperten aus 11 Ländern an.

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