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Erneuerer der Literaturwissenschaft

Zum Tod von Jurij Striedter (1926-2016), von 1961 bis 1966 Slawistikprofessor an der Freien Universität / Ein Nachruf von Georg Witte

24.06.2016

Jurij Striedter 1960 an der Freien Universität, wo er sich habilitierte und von 1961 bis 1966 als Professor für Slawistik wirkte.

Jurij Striedter 1960 an der Freien Universität, wo er sich habilitierte und von 1961 bis 1966 als Professor für Slawistik wirkte.
Bildquelle: Privat

Von 1977 bis 1993 war Striedter Professor an der Harvard University.

Von 1977 bis 1993 war Striedter Professor an der Harvard University.
Bildquelle: Privat

Jurij Striedter war häufig in Berlin zu Gast – wie hier 2012.

Jurij Striedter war häufig in Berlin zu Gast – wie hier 2012.
Bildquelle: Karl Eimermacher

Am 21. Juni verstarb Jurij Striedter, Professor für Slawische Philologie an der Freien Universität von 1961 bis 1966, in Tampa (Florida) im Alter von 90 Jahren. Striedter gehörte zu den wichtigsten deutschen Literaturwissenschaftlern der Nachkriegszeit. Seine Seminare waren in den 1960er Jahren „eine kleine Sensation“, wie sich einer seiner Schüler, Karl Eimermacher, emeritierter Professor der Ruhr-Universität Bochum, anlässlich Striedters 85-jährigen Geburtstags erinnerte: Striedter habe sich gegen jeden „literaturwissenschaftlichen Reduktionismus“ gewandt, sei „Komparatist im besten Sinne“ gewesen.

Ein Nachruf von Georg Witte, Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Geschäftsführender Direktor des Peter Szondi-Instituts und Leiter der Abteilung Kultur des Osteuropainstituts der Freien Universität Berlin.

Jurij Striedter wurde 1926 in Nowgorod geboren und wuchs in Leningrad, Reval/Tallin und Posen auf. Nach dem Studium der Germanistik, Philosophie und Slawistik und der Promotion an der Universität Heidelberg wurde er 1959 an der Freien Universität Berlin habilitiert. Von 1961 bis1966 war er Professor für Slawische Philologie an der Freien Universität. Er wechselte dann zur Universität Konstanz und wurde zu einem prägenden Mitglied der Forschergruppe „Poetik und Hermeneutik“. 1977 erhielt er einen Ruf an die Harvard University und lehrte dort bis 1996. In seinen 2010 erschienenen Memoiren „Momente. Erinnerungen an Kindheit und Jugend (1926-1945)“ schildert er eindringlich die prägenden Erfahrungen eines in der Zwischenkriegszeit aufgewachsenen, mit kulturell, politisch und sprachlich heterogenen Umwelten konfrontierten Intellektuellen.

Jurij Striedter war eine der prägenden Persönlichkeiten der Erneuerung literaturwissenschaftlicher Methoden und Haltungen in den 1960er Jahren. Seinen bis zum heutigen Tage maßgeblichen Editionen der Texte des russischen Formalismus und des tschechischen Strukturalismus haben die deutsche und die internationale Slawistik wesentliche Impulse ihrer methodologischen Innovation zu verdanken sowie die dichte Einbindung in die poetologische Diskussion der geisteswissenschaftlichen Nachbardisziplinen. Zeitlebens vehementer Anwalt für eine systematisch strenge, typologisch vergleichende und strukturbewusste Literaturanalyse, hat er sich zugleich immer gegen einen sterilen Deskriptivismus gewandt und die Verbindung hermeneutischer und strukturalistischer Erkenntnisinteressen gesucht.

Er sah seine literaturwissenschaftlichen Forschungsgegenstände in historischer Tiefenperspektive und in engem Bezug zu lebensweltlichen Kontexten, etwa in seinen Studien zum Werk Alexander Puschkins. Gattungsgeschichtliche Entwicklungen rekonstruierte er, dank seiner umfassenden literarischen Bildung, in weit angelegter komparatistischer Perspektive – wie etwa seine Untersuchung zur Geschichte des russischen Schelmenromans zeigt.

Jurij Striedter hat in seiner Wirkungszeit in der Slawistik und am Osteuropa-Institut der Freien Universität eine bedeutende Gruppe von Schülern hervorgebracht, die in den folgenden Jahrzehnten das Feld der literaturwissenschaftlichen Slawistik nachhaltig beeinflussten. Dass dies gelang, verdankt sich, neben der intellektuellen Prägekraft Jurij Striedters, auch der von ihm geschaffenen Atmosphäre der Offenheit und des Vertrauens, an die sich viele seiner früheren Kollegen und Schüler dankbar erinnern. Wir haben eine große Wissenschaftlerpersönlichkeit, einen Freund und Lehrer verloren.