Fragen für alle
Die Schriftstellerin und Philosophin Hélène Cixous war zu Gast an der Freien Universität
17.05.2016
Hélène Cixous beginnt ihre Lesung mit einem Schrei. Sie macht eine Pause, hält sich die Hand vor die Augen, dann geht es los. „Ay yay – The Cry of Literature”, so lautete der Titel der diesjährigen Hegel Lecture am Dahlem Humanities Center (DHC) der Freien Universität. Hélène Cixous ist 78 Jahre alt, sie wurde 1937 in Algerien geboren, wo sie mit Französisch, Arabisch und Deutsch aufwuchs, ihre Mutter stammt aus Osnabrück. Begrüßt wurde die Autorin an der Freien Universität von Universitätspräsident Professor Peter-André Alt und von Professor Paul Nolte, Sprecher des DHC, auf dessen Einladung Cixous nach Dahlem gekommen war.
Hélène Cixous spricht für ein internationales Publikum. Mehrmals im Satz wechselt sie die Sprache und führt einzelne Wörter weit über ihre Bedeutungsgrenzen hinaus. So auch das Wort „schreiben“, in dem sowohl im Deutschen als auch im Französischen der „Schrei“ steckt: cri, écrire, écrit.
Der Schrei begleitet die Übergänge zwischen Leben und Tod, er ist der Klang der Grenze, der Grenzerfahrungen. Das Schreiben über den Tod der eigenen Mutter verwebt Cixous mit ähnlichen Szenen aus den großen Tragödien. Es fallen Namen wie Sophokles, Shakespeare und Dostojewski, aber auch Virginia Woolf, Celan und Derrida. Es geht also auch um das Rufen, die Anrufung literarischer Stimmen, um Vielstimmigkeit. Und es geht um Berufung. Letztere hat Cixous ganz eindeutig sowohl in der künstlerischen Arbeit, als auch als Wissenschaftlerin gefunden: In Paris promovierte sie über James Joyce und gründete 1974 das erste europäische Institut für „Études féminines“.
Verbindung von Literatur und Leben
Thema ihrer poetischen Performance ist vor allem die enge Verbundenheit der Literatur mit dem Leben: „Vorbei, sagt die Sterblichkeit. Nein, rufe ich.“ „Kann man ungeschehen machen (undo)? Kann man unsterblich werden (un-die)?“ fragt die Philosophin. Und antwortet: Beim Schreiben verliere sich das Ich. Aber nach Verlust und Tod könne es sich in der Literatur wiederfinden. Die Literatur biete Raum für all die Geschichten, die sonst verloren gingen, sie sei Gedächtnis, Überleben, Leben nach dem Leben.
Im Workshop mit Studierenden der Freien Universität am nächsten Tag lässt sich Cixous auf diese Fragen ein, fragt zurück und diskutiert gemeinsam mit den Teilnehmern, inwiefern Literatur zeitliche und emotionale Abgründe überbrücken kann und welche politischen Dimensionen sich dabei auftun. Außerdem geht es mit Walter Benjamin um das Übersetzen: aus einer Sprachkultur in die andere, aus einer Zeit in die andere, aus der Welt der Kunst in die Terminologie der Wissenschaft.
59 Minuten
Schon in der Einführung zur Hegel-Lesung hatte Präsident Professor Peter-André Alt darauf hingewiesen, dass die poetische Sprache bei Cixous eng mit ihrem Verständnis von Freiheit zusammenhänge. Ein Beispiel für die ungewöhnlichen Denkansätze der Autorin bot das Spiel mit der Zahl 59, von der Cixous in der Lecture behauptet, sie sei eine Art geheimes „apokalyptisches Passwort“ der Literatur. Exklusive akademische Hermetik oder Ironie? Es ist wohl vor allem Spiel: Die Autorin vermeidet jede Konvention, jede Floskel und benutzt die Sprache wie ein Instrument.
Einer der letzten Klänge dieses Stimmen-Konzertes ist das Zitat von Shakespeares Hamlet: „The rest is silence.“ Dann erklingt noch einmal der Schrei, „Ay yay yaaay“, diesmal leise, wie ein Echo. „Silence“, sagt die Philosophin. Und schweigt. Das Publikum lauscht. Nach einem Moment trinkt Hélène Cixous einen Schluck Wasser und sagt: „59 minutes“. Die Performance ist vorbei.