„Was tun wir, wenn wir Geisteswissenschaften betreiben?“
Mit einem neuen Vorstand richtet sich das Dahlem Humanities Center der Freien Universität neu aus
01.02.2016
Von diesem Montag an hat das Dahlem Humanities Center (DHC) einen neuen Vorstand. Das Zentrum – eine der insgesamt fünf Focus Areas der Freien Universität Berlin – bündelt seit 2007 die Vielfalt der geisteswissenschaftlichen Forschung der Hochschule. Diese Vielfalt bildet sich im neuen Vorstand ab: Zu seinen vier Mitgliedern gehören die Arabistin Beatrice Gründler, die Romanistin Anita Traninger, der Theaterwissenschaftler Matthias Warstat sowie – als Sprecher und damit Nachfolger von Joachim Küpper – der Historiker Paul Nolte. Mit ihm sprach Nina Diezemann über Aufgaben und Zukunft des DHC.
Herr Professor Nolte, warum braucht die Freie Universität ein Dahlem Humanities Center?
Die Freie Universität ist eine weltweit führende Universität in den Geisteswissenschaften. Die vielfältigen geisteswissenschaftlichen Aktivitäten müssen einerseits nach innen gebündelt und andererseits nach außen sichtbar werden und ausstrahlen. Die Geisteswissenschaften sind an den beiden großen Fachbereichen Philosophie und Geisteswissenschaften sowie Geschichts- und Kulturwissenschaften vertreten, und jeder dieser Fachbereiche umfasst ein weites disziplinäres und methodisches Spektrum – vermutlich ein größeres als in einigen der naturwissenschaftlichen Fachbereiche an dieser Universität. Da ist eine Abstimmung und Verständigung darüber, was Geisteswissenschaften sind und was wir tun, wenn wir in unterschiedlichen Fächern als Geistwissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler arbeiten, dringend notwendig.
Nach außen ist die Vernetzungs- und Ansprechpartnerfunktion des DHC von Bedeutung, vor allem für andere führende Institutionen im angelsächsischen Raum und darüber hinaus, wo es ebenfalls „Humanities Centers“ gibt.
Was bedeutet das DHC für Sie und für Ihre Arbeit?
Für mich birgt die Arbeit am DHC die Chance zu fragen, wie die Geisteswissenschaften funktionieren, was sie beeinflusst und wie sie sich verändern. Unsere Fächer haben innerhalb weniger Jahrzehnte erhebliche Transformationen durchgemacht. Als ich studiert habe, wirkte noch eine sozialwissenschaftliche Wende in die Geisteswissenschaften hinein, dann kam der sogenannte Cultural Turn, der die Geisteswissenschaften kulturwissenschaftlich – häufig beeinflusst von Poststrukturalismus und Linguistic Turn – neu erfunden hat.
Was ist von diesen „Wenden“ geblieben? Das sind Fragen, die mich auch deshalb sehr interessieren, weil ich mein eigenes Fach, die Geschichte, immer als interdisziplinäres Fach verstanden habe. Wir wollen auch nach der Zukunft der Geisteswissenschaften fragen und nach ihrer gesellschaftlichen Rolle.
Wie könnte ein solcher Verständigungsprozess, von dem Sie sprechen, aussehen?
Wir überdenken das Veranstaltungsspektrum des DHC derzeit und wollen es erweitern – neben den großen Vorträgen wollen wir diskursive Formate stärker zur Geltung bringen, Formate der inneren Selbstverständigung wie Workshops. Wir denken auch darüber nach, Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler stärker einzubeziehen und dabei die Postdoc-Schwelle nach unten zu durchbrechen, um auch fortgeschrittenen Doktoranden zu ermöglichen, wissenschaftliche Gesprächspartner einzuladen.
Welche Themen haben Sie sich vorgenommen?
Unsere Leitfrage könnte man so umreißen: „Was tun wir, wenn wir Geisteswissenschaften betreiben?“. Da der Vorstand nun paritätisch mit Wissenschaftlern aus beiden Fachbereichen besetzt ist, sollen sich im Programm in Zukunft auch die Themen, Fragen und Methoden des Fachbereichs Geschichts- und Kulturwissenschaften stärker abbilden.
Ein Aspekt, der in den Kulturwissenschaften und den Archäologien eine Rolle spielt, ist die Materialität des Wissens – sei es bei einer archäologischen Ausgrabung oder bei einem Bild in der Kunstgeschichte. Das Verhältnis von Materialität und Schrift, von Ding und Schrift, von Bild und Schrift ist gerade eines der „heißen“ Metathemen der Geisteswissenschaften, auch in den Philologien. Ein weiteres Querschnittsthema, das wir in den Vordergrund rücken wollen, sind die Digital Humanities.
Öffentlich sichtbar waren in den vergangenen Jahren die großen Vorträge: die Siegfried-Unseld-Vorlesung oder auch die Hegel Lecture. Rednerinnen und Redner wie Judith Butler und Slavoj Žižek zogen Hunderte von Zuschauern nach Dahlem. Wie sollen diese Reihen fortgeführt werden?
Die Hegel Lecture soll ein Format für Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler mit internationaler Ausrichtung bleiben. Ich finde aber die Idee reizvoll, die Vortragsreihe nicht nur nach Hegel zu benennen, sondern auch zu überlegen, wie man den Namen inhaltlich füllen kann. Wie verhalten wir uns zu Hegels Erbe? Steckt in der geistigen Chiffre eine aktuelle gesellschaftliche oder politische Aussage? Wie verhalten wir uns überhaupt zu intellektuellen Traditionen, etwa zu den großen geisteswissenschaftlichen Denkbewegungen seit dem 18. und 19. Jahrhundert?
Bei der Siegfried-Unseld-Vorlesung, die in Kooperation mit dem Suhrkamp Verlag stattfindet, könnten wir uns vorstellen, das Feld über die Literatur hinaus zu erweitern und stärker auf ein stadtöffentliches Publikum zu zielen.
Überhaupt möchten wir mit dem DHC die Sichtbarkeit der Geisteswissenschaften der Freien Universität in der Stadtöffentlichkeit erhöhen. Für die Freie Universität wird es eine der großen Herausforderungen in den nächsten Jahren werden, die Strahlkraft des geisteswissenschaftlichen Standortes Dahlem zu bewahren, wenn die Museen schließen und die weltweit hervorragenden Sammlungen in das Humboldt-Forum umziehen. Wir müssen neue Wege finden – ein aktives Dahlem Humanities Center könnte einer davon sein.
Die Fragen stellte Nina Diezemann
Weitere Informationen
Dahlem Humanities Center (DHC)
Das Dahlem Humanities Center (DHC) gehört zu den fünf Focus Areas der Freien Universität. Die fachbereichsübergreifenden Forschungsplattformen dienen dem interdisziplinären Austausch zu aktuellen, zukunftsträchtigen Themenfeldern sowie der Entwicklung neuer Forschungsverbünde und -projekte. Seit 2007 übernimmt das DHC diese Aufgabe innerhalb der Geisteswissenschaften der Freien Universität.
Das Zentrum kooperiert darüber hinaus mit zahlreichen außeruniversitären Einrichtungen und ist weltweit vernetzt. Es ist eng verknüpft mit dem DAAD geförderten Netzwerk „Principles of Cultural Dynamics“ (Prinzipien kultureller Dynamiken), dem neben der Freien Universität Berlin auch die Johns Hopkins University, die Harvard University, die Chinese University of Hong Kong, die École des Hautes Études en Sciences Sociales, Paris (EHESS) und die Hebrew University of Jerusalem angehören. Auch ist das DHC Gastinstitution für Fellows aus aller Welt, unter anderem für Postdoktoranden aus den USA, die mit dem Programm der Volkswagen-Stiftung und der Andrew W. Mellon Foundation an der Freien Universität forschen.
Im Rahmen verschiedener Veranstaltungen des DHC gewähren Geisteswissenschaftler, Schriftsteller, Intellektuelle und Künstler aus dem In- und Ausland der universitären und außeruniversitären Öffentlichkeit Einblick in ihre aktuelle Forschung und Arbeit. Zu den Höhepunkten des Programms zählen die Hegel Lecture und die Siegfried-Unseld-Vorlesung, die in Kooperation mit dem Suhrkamp Verlag stattfindet.
Dem bisherigen Vorstand gehörten Joachim Küpper, Professor für Romanistik und Sprecher des DHC, Erika Fischer-Lichte, Professorin für Theaterwissenschaft, und Klaus Hempfer, Professor für Romanistik an.