Das Fremde liegt näher als gedacht
Das Institut für Ethnologie heißt jetzt Institut für Sozial- und Kulturanthropologie / Ein Gespräch mit Professor Hansjörg Dilger
28.07.2015
Ethnologie – abgeleitet vom altgriechischen Begriff „éthnos“ – ist die „Lehre vom fremden Volk“. Was und vor allem wie innerhalb der Disziplin heute geforscht wird, entspreche jedoch nicht mehr diesem im Namen vermittelten Ansatz, sagt Professor Hansjörg Dilger, Geschäftsführender Direktor des Instituts. Das ist einer der Gründe, warum das Institut für Ethnologie der Freien Universität in „Institut für Sozial- und Kulturanthropologie“ umbenannt worden sei. Campus.leben sprach mit dem Wissenschaftler über den Wandel innerhalb des Faches – und über dessen besondere Bedeutung in der globalisierten Welt.
Herr Professor Dilger, im deutschsprachigen Raum gibt es die Bezeichnungen Völkerkunde, Ethnologie sowie Sozial- und Kulturanthropologie. Handelt es sich dabei nicht immer um das gleiche Fach? Und warum haben Sie sich für die komplizierteste der drei Bezeichnungen entschieden?
Ob Institut für Völkerkunde, Ethnologie oder Sozial- und Kulturanthropologie – so groß sind die Unterschiede in Methoden und Theorien bei uns allen heute nicht. Mit der Umbenennung des Instituts möchten wir ein Zeichen setzen für den aktuellen Forschungsansatz, den wir an der Freien Universität verfolgen: Wir untersuchen den Menschen in seinen sozialen und kulturellen Bezügen. Die Namensgebung hängt mit verschiedenen historischen Hintergründen und Fachtraditionen zusammen, wobei unser Institut seit seiner Einrichtung an der neugegründeten Freien Universität im Jahr 1948 eng an den internationalen Fachdebatten orientiert ist.
In der englischsprachigen Ethnologie gibt es zwei Strömungen, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch deutlich unterschieden haben: In Großbritannien konzentrierte sich die „Social Anthropology“ auf menschliches Handeln im Rahmen sozialer Strukturen, in den USA ist die Anthropologie, die Wissenschaft vom Menschen, bis heute in vier Bereiche unterteilt – die Archäologie, die physische Anthropologie, die Linguistik und die „Cultural Anthropology“ – bei letzterer lag der Schwerpunkt auf kulturellen Bedeutungen. Beide Traditionen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten einander angenähert: In Großbritannien werden heute auch kulturelle Aspekte erforscht, in den USA auch gesellschaftliche Prozesse.
Wie ist die Situation in Deutschland?
Hier lag der Schwerpunkt der Völkerkunde Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zunehmend auf der physischen Anthropologie. In Zusammenhang mit dem Kolonialismus und dem Nationalsozialismus wurden in der sogenannten Rassenkunde soziale und kulturelle Fragestellungen von biologischen und ideologischen überlagert; Völker wurden auf Grundlage damals geltender Theorien in Kategorien und Stufen einer „evolutionären Rangordnung“ eingeordnet. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich das Fach Ethnologie neu gegründet, im Fokus standen zunächst primär einzelne Ethnien und deren Kultur.
Seit spätestens den 1990er Jahren geht es in der Ethnologie jedoch explizit nicht mehr darum, das Fremde in anderen Kulturen zu zeigen, sondern ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie unterschiedlich Menschen in verschiedenen Kulturen mit den Herausforderungen ihrer Zeit umgehen.
Wir Wissenschaftler sehen uns in der global verflochtenen Welt Machtstrukturen und Migrationszusammenhänge an, betrachten wirtschaftliche und rechtliche Themen oder auch die Medien. Wir entwickeln gemeinsam mit den Menschen Fragestellungen zu den für sie wichtigen Themen, etwa im Gesundheitsbereich oder beim Umgang mit Naturkatastrophen. Ethnische Zugehörigkeit ist in diesem Rahmen nur noch eine Kategorie neben anderen wie sozialer Status, Geschlecht, Alter oder religiöse Selbstverortung, die das Handeln von Menschen in Bezug auf solche Lebensbereiche erklären.
Das ist eine andere Herangehensweise, und somit ist es nur konsequent, einen Namen zu wählen, der dem Wandel des Faches und internationalen Fachdebatten entspricht – selbst, wenn unser wissenschaftlicher Dachverband noch immer „Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde“ heißt und die meisten Institute im deutschsprachigen Raum bei „Ethnologie“ bleiben.
Was kann die Sozial- und Kulturanthropologie zu den Fragen unserer Zeit beitragen – etwa im Vergleich zu Fächern wie Politikwissenschaft oder Soziologie?
Durch die Methode der Feldforschung begleiten wir die Menschen über einen längeren Zeitraum in ihrem Alltag – auch an Orten, die unbequem sind und vielleicht gerade nicht im Fokus der weltweiten Nachrichten stehen. Durch den intensiven Austausch haben wir nicht nur spezifische Regional- und Sprachkenntnisse, sondern lernen andere, oft unerwartete Sichtweisen auf bestimmte Themen kennen, die bei kürzeren Auslandsaufenthalten oder einzelnen Interviews nicht sichtbar werden.
Wenn man versteht und vermitteln kann, warum Menschen ihre an Ebola erkrankten und verstorbenen Angehörigen trotz aller Warnungen von Gesundheitsexperten berühren möchten, kann man vor Ort anders mit Problemen der Notfallversorgung umgehen und gleichzeitig Verständnis wecken für die Bedeutung von Empathie und Solidarität in Notzeiten. Dann unterscheidet sich das vermeintlich fremde Verhalten nicht mehr so sehr davon, wie Menschen in unserem eigenen Lebensumfeld mit lebensbedrohlichen Situationen umgehen würden.
Zu unseren regionalen Schwerpunkten hier am Institut zählt – neben Südostasien sowie dem östlichen und südlichen Afrika – inzwischen auch das europäische Umfeld. Feldforschungen finden auch in Berlin statt, zum Beispiel zur emotionalen Sozialisation von Kindern oder zum religiösen Leben im Migrationszusammenhang.
Unsere interkulturellen Kompetenzen werden immer mehr wahrgenommen und geschätzt – von Medien ebenso wie von Unternehmen oder Kulturorganisationen, der Arbeitsmarkt hat sich verändert. Die Berufschancen für unsere „SKA’ler“, wie sich einige unserer Studierenden jetzt nennen, sind viel besser als früher – auch durch die Ausbildung in speziellen Profilmodulen zu aktuellen Themen des Fachs. Unsere Gesellschaft verändert sich zunehmend in unserer globalisierten Welt, umso relevanter ist unsere Forschung dazu.
Die Fragen stellte Nicole Körkel