Festgehaltene Gefährten
Der Schriftsteller Volker Braun hielt die zweite Siegfried-Unseld-Vorlesung an der Freien Universität
21.11.2014
Der Schriftsteller Volker Braun zitierte im Rahmen der Siegfried-Unseld-Vorlesung an der Freien Universität aus seinen Werktage-Arbeitsbüchern.
Bildquelle: Hermann Bredehorst
"Festgehaltene Gefährten" hatte Volker Braun seine Vorlesung im Hörsaal der Rost- und Silberlaube der Freien Universität überschrieben.
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Ulla Unseld-Berkéwicz, Leiterin des Suhrkamp Verlags, und Präsident Professor Dr. Peter-André Alt freuten sich, dass Hans Pischner, der im Februar seinen 101. Geburtstag feiern wird, an die Freie Universität gekommen war.
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Nicht der eingeladene Autor, sondern dessen zahlreiche Wegbegleiter sollten im Mittelpunkt dieser besonderen Veranstaltung stehen: „Festgehaltene Gefährten“ hatte Volker Braun seinen Vortrag überschrieben, den er auf Einladung des Dahlem Humanities Centers kürzlich an der Freien Universität hielt. Der 75-jährige Schriftsteller – einer der renommiertesten deutschsprachigen Autoren, Lyriker und Dramatiker – war nach Uwe Tellkamp der zweite Gast der Siegfried-Unseld-Vorlesung. Die Kooperation zwischen dem Suhrkamp Verlag und der Freien Universität war 2012 ins Leben gerufen worden.
Ein passender Gast ist Volker Braun allemal, in diesem Jahr besonders: Dass der in Dresden geborene Schriftsteller im Jahr des 25. Jubiläum des Mauerfalls an der Freien Universität spreche, füge sich glücklich, sagte Präsident Peter-André Alt in seinem Grußwort. Braun hat die DDR, die friedliche Revolution und die Zeit seit der Wende 1989 als politisch engagierter Schriftsteller begleitet. Festgehalten hat er dies seit 1977 in kurzen, literarischen Einträgen in seinen „Werktage-Arbeitsbüchern“, von denen der zweite, im Frühjahr dieses Jahres erschienene, Teil im Januar 1990 einsetzt.
Unter den „Festgehaltenen Gefährten“, wie Braun seinen Vortrag überschrieben hatte, in dem er von Weg- und Werkbegleitern erzählte, gehörte der große Suhrkamp-Verleger und Namensgeber der Vorlesung zu den wichtigsten. Wie wichtig Siegfried Unseld für Braun war, zeigen zahlreiche Einträge in dem doppelbändigen Werktage-Arbeitsbuch; sehr eindringlich eine Notiz vom 2. November 2002, dem Tag von Unselds Trauerfeier: „Daß er nicht mehr lebt, der entschlossene, der ermutigende Freund, wird die Arbeit einsamer machen und jedes Gelingen schmerzlich.“
„Was ich geworden wäre?“
Die Bekanntschaft zwischen Volker Braun und Siegfried Unseld hatte Helene Weigel – die Schauspielerin, Intendantin und Witwe Bertold Brechts – Mitte der sechziger Jahre gestiftet. Und damit eine lebenslange Freundschaft angestoßen. Aus den zahlreichen Begegnungen mit dem Verleger, von denen Volker Braun in seinem Buch berichtet, hob er an diesem Dahlemer Novemberabend eine hervor, an die zuvor schon Raimund Fellinger, Cheflektor des Suhrkamp Verlags, erinnert hatte:
Zwei Männer überquerten 1971 über die Weidendammer Brücke die Spree und schlenderten zum Bahnhof Friedrichstraße. Der Kräftige – der Verleger – und der Blasse – der Autor – wechselten beim Anblick der Grenzsoldaten wenige, bis heute geheime Worte und gingen schließlich getrennter Wege: Der Kräftige zurück in den Westen, der Blasse blieb im Osten. Über den Inhalt des Gesprächs, das sich – so darf spekuliert werden – um eine mögliche Ausreise Volker Brauns in den Westen drehte, verriet Braun auch 43 Jahre später nichts – erlaubte sich nur einen Gedanken: „Was ich geworden wäre , ist eine müßige, aber interessante Frage.“ Was Braun blieb, ist bekannt: Ost-Berliner.
Dr. Raimund Fellinger, Cheflektor des Suhrkamp Verlags hielt ein Grußwort für Volker Braun.
Bildquelle: Hermann Bredehorst
Signierstunde: Nach Volker Brauns Vorlesung und vor dem sich am nächsten Tag anschließenden Werkstattgespräch mit Studierenden und Doktoranden der Freien Universität.
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„Verlegerischer Zweitwohnsitz“
Für Volker Braun ist der persönliche Austausch in Form (schriftlicher) Begegnungen Literatur. Seine Gefährten und Wegbegleiter fügen sich zu einem hochkarätig besetzten Theater-Ensemble: Bertolt Brecht – sein „literarischer Vater“ – Franz Fühmann, Thomas Brasch und Karl Mickel, seine wichtigsten Freunde; schließlich Christa Wolf, Heiner Müller, Peter Weiss und Martin Walser – große Namen deutscher Literatur. Es ist kein Zufall, dass sie und Volker Braun ein Name verbindet: Siegfried Unseld und dessen Suhrkamp Verlag – Brauns „verlegerischer Zweitwohnsitz“, wie Peter-André Alt formulierte.
Gemischte Gefühle
Volker Braun gab, indem er seine raffiniert und pointiert formulierten, zuweilen witzigen Notizen nicht chronologisch las, sondern zwischen den Zeiten während der Mauer und nach ihrem Fall hin- und hersprang, einen Einblick in sein Leben und Schreiben als deutsch-deutscher Autor. Die Erinnerungen an den Fall der Mauer und die Wende verbinden sich für ihn dabei mit einer eigentümlichen Widersprüchlichkeit: hier die Schönheit des gewaltlosen Aufbegehrens, dort die Schrecken eines Staates; einerseits die Freude über die gewonnene Souveränität, andererseits eine im Moment der Wende mitschwingende Melancholie. Das zwiespältige Gefühl beschreibt er in seinem Werktagebuch mit der „Freude und Angst vor dem ungeheuren Eigenen, zu dem wir jetzt gefordert sind“.
Neben Ulla Unseld-Berkéwicz, Suhrkamp-Verlegerin und Witwe Siegfried Unselds, begrüßte Volker Braun einen Zuhörer mit besonderer Freude: den 100-jährigen Hans Pischner, Musiker und ehemaliger Intendant der Staatsoper Unter den Linden.
An die Vorlesung schloss sich eine Signierstunde an und am darauffolgenden Tag ein Werkstattgespräch des Autors mit zehn Studierenden und Promovenden der Freien Universität.