„Wie leide ich vor Sehnsucht! Wäre es doch Weihnachten“
Weihnachten zwischen Konsum und Besinnlichkeit
23.12.2011
Rainer Kampling, Professor am Seminar für Katholische Theologie der Freien Universität Berlin, über die Kommerzialisierung eines Festes, dessen religiöser Hintergrund immer mehr verdrängt wird. Ein Meinungsbeitrag.
„Wie leide ich vor Sehnsucht! Wäre es doch Weihnachten“. Mit diesem Satz, den der Baum in der Erzählung "Der Tannenbaum" von Hans Christian Andersen seufzt, ließ ich meinen kleinen Beitrag im Online-Magazin campus.leben zu Weihnachten 2008 enden. Zwischenzeitlich hat die Kommerzialisierung des Weihnachtsfestes nochmals Kapriolen geschlagen; ein für seine grenzwertige Werbung bekannter Konzern hat den Slogan ausgegeben, dass sich Weihnachten unter dem Baum entscheide. Diese Dreistigkeit hat aber insofern Recht, als sie immerhin aufdeckt, dass man selbst an den Feiertagen weder den wirtschaftlichen Problemen des Einzelhandels, die solche Kampagnen hervorbringen, noch dem Konsumismus entkommt.
Bei einer aktuellen Umfrage wussten 51 Prozent der Befragten, dass Weihnachten ein christliches Fest ist. „Nur 51 Prozent" , hätte man vor drei Jahrzehnten noch gebarmt, „noch 51 Prozent“, könnte man heute angesichts der vielfachen Verschattung des ursprünglichen Festgedankens und des Verlustes von Wissen um religiöse Herkünfte der meisten Feiertage der Bundesrepublikin Deutschland feststellen. Doch, – wie die Umfrage ergab, – begehen auch diese 51 Prozent das Fest nicht als Erinnerung an die Geburt Jesu Christi, womit sich die Frage stellt, aus welchem Grund man dann überhaupt diesen Tagen im Dezember besondere Aufmerksamkeit schenkt. Denn Weihnachten ohne Jesus Christus zu feiern, ist doch ersichtlich so, als würde man Muttertag ohne Mutter feiern.
Vielleicht liegt der Schlüssel zur Beantwortung in dem Wort Sehnsucht und seinen Konnotationen. In einer Zeit, in der vieles fraglich geworden ist, in der sich gewohnte Sicherheiten als vermeintliche herausstellen, das Gefühl von Besorgnis und Verlust wächst, kann dieses Fest als beständiges und vertrautes sehnsuchtsvoll gedeutet und zelebriert werden. Folgerichtig hat in diesen Tagen das Wort von der Besinnlichkeit Konjunktur, so als könnte man diesen Habitus wie einen Termin in den Kalender eintragen.
Es gibt sogar Vorschläge in einschlägigen Magazinen, wie man diese inszenieren kann. Da dazu anscheinend wiederum irgendwelche Utensilien notwendig sind, muss man wohl oder übel in Kauf nehmen, dass vor der Besinnlichkeit erst einmal Hektik und Konsum stehen. Allerdings kann man sich auch nicht des Verdachts entledigen, auf diesem Weg solle die Einsicht verhindert werden, dass Gemütlichkeit und Besinnlichkeit nicht einfach austauschbar sind.
Letztere ist nicht durch etwas Äußerliches herstellbar, sondern durch das Innewerden seiner Selbst erfahrbar. Besinnlichkeit hat mehr mit dem Akt und der Haltung der Besinnung zu tun, als mit dem Schmücken irgendwelcher Räume oder Bäume oder dem Besuch des Weihnachtsoratoriums von Bach, so schön es auch ist. Dass der Mensch zunächst sich selber wahrnimmt und in das Zentrum seines Besinnens stellt, bildet die Voraussetzung dessen , was mit Besinnlichkeit gemeint ist.
So betrachtet sind all die Hilfsmittel und Utensilien, die Kerzen und der ganze Weihnachtsschmuck, zwar vielleicht ganz hübsch, aber eher hinderlich, gewiss jedoch unnötig, will man dieser Zeit des Bei-Sich-Seins, die die Ermöglichung der Entgrenzung für andere bietet, teilhaftig werden. Insofern Besinnlichkeit verwiesen ist auf Reflexion und Kontemplation, zeigt sich, dass selbst Worte Opfer des weihnachtlich normierten Konsumismus werden.
Aber vielleicht gibt es doch in all dem ein Ahnen von der eigentlichen Bedeutung. Unter den Bergen von Geschenken und Geschenkpapier läge etwas versteckt, was man als Sehnsucht des gelungenen Augenblicks mit sich selbst bezeichnen könnte, wobei es allerdings gilt, diese Sehnsucht, die eben nicht materiell befriedigt werden kann, zu entdecken und zuzulassen.
Ein erster Schritt wäre gewiss, wenn man zur Kenntnis nähme – denn wissen wird man es wohl – dass all das Zeugs, so lieblich es auch sein mag, diese Sehnsucht nicht stillen kann, denn ansonsten könnte man Weihnachten gleich in einem Warenhaus feiern. Und es ginge einem mit seiner Sehnsucht wie dem Andersen'schen Tannenbaum, der im Ofen landet.
Nach biblischer Auffassung spricht Weihnachten nicht nur, – obgleich dies viel ist, – von der Menschwerdung des Wortes Gottes, sondern auch davon, dass es dem Menschen möglich ist, sich zu entdecken und sein Menschsein zu leben.
Für Christinnen und Christen ist das eine mit dem anderen verschränkt und eben darin erschließt sich Weihnachten. Doch selbst dann, wenn man nichts mit dem Evangelium anfangen kann, bleibt doch der zweite Aspekt aufgetragen. In diesem Sinne ist auch Weihnachten unaufgebbar, und sei es als Erinnerung an menschliche Sehnsucht."