Lesen im digitalen Zeitalter
Die Autorin und Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger debattierte mit Studierenden über das „Wesen des Buches“ und die Zukunft des Lesens
17.11.2011
Verkehrte Welt an der Freien Universität Berlin: Während Studierende im Gespräch mit Ruth Klüger den Sprachverfall und den bevorstehenden Niedergang der deutschen Buchkultur beklagen, hält die 80-jährige Literaturwissenschaftlerin und Bestsellerautorin ein flammendes Plädoyer für den E-Book-Reader. „Wir hängen den Entwicklungen in den USA lediglich fünf Jahre hinterher“, sagt auch ihre Berliner Verlegerin Christiane Frohmann, „das elektronische Lesen kommt auch bei uns, da bin ich sicher.“
Mit ihrem Bekenntnis, eine „begeisterte Konvertitin zum E-Book“ zu sein, scheint Ruth Klüger im akademischen Umfeld in Deutschland beinahe ein Tabu gebrochen zu haben. „Ich bestelle impulsiv immer mehr elektronisches Lesematerial“, sagt sie, „dabei nehme ich schon seit meinem sechsten Lebensjahr auf Papier gedruckte Schrift wie eine Droge zu mir.“ Die Autorin, die gerade ihren 80. Geburtstag gefeiert hat, freut sich bei E-Books über die anpassbare Schriftgröße, das klare Schriftbild sowie den bequemen und schnellen Kauf von Büchern per Knopfdruck. Erschwinglich seien in den USA – wo Ruth Klüger seit ihrer Emigration im Jahr 1947 lebt – auch wissenschaftliche Texte, denn dort gibt es keine Preisbindung für E-Books.
Schwerer Abschied vom gedruckten Buch
In der Diskussion mit Ruth Klüger, ihrer Verlegerin Christiane Frohmann im „eriginals Berlin“-Verlag und Literaturprofessor Richard Brittnacher von der Freien Universität zeigten sich Studierende wie Gäste dem E-Book gegenüber skeptisch. Der von Klüger geschilderte amerikanische Blickwinkel, der gedruckte Bücher schon fast zum Altpapier zählt, schockierte das Publikum. Mit ihren Fragen offenbarten die Studierenden ihre starke Verbundenheit zum gedruckten Medium: Weil echte Bücher samt Anstreichungen und Notizen an andere verliehen werden könnten, und weil sie hierzulande elementarer Bestandteil von Wohnungseinrichtung und persönlicher Geschichte seien, plädierten die Zuhörer für deren Erhalt.
Doch die Veranstaltung war mehr als nur eine Konfrontation zwischen Kritikern und Verfechtern des E-Books, denn trotz der genannten Vorteile möchten auch Klüger und ihre Verlegerin ihr heimisches Bücherregal nicht missen. In der digitalen Form sehen sie allerdings die Zukunft. „Das kunstvoll gestaltete Buch wird es für Liebhaber sicher auch weiterhin geben. Wer dem Buch nachtrauern wird, wird um ein objet d’art – ein Kunstobjekt – trauern“, sagte Klüger.
Veränderte Verlagsarbeit in Zeiten des E-Books
Auch aus der Perspektive der Verlegerin liegen die Vorteile des E-Books auf der Hand: Christiane Frohmann schätzt sich glücklich, auch kürzere Texte veröffentlichen zu können; Texte, die auf dem normalen Buchmarkt keine Chance hätten, sei es wegen ihrer Aktualität oder weil sie nicht in ein bestimmtes Genre passen. Kurz: Frohmann kann auch Bücher veröffentlichen, die für den Print-Markt verlegerisch zu große Risiken bergen. „Die Kunst bei E-Books ist es aber, die Bücher angesichts der Fülle des Angebots im Internet sichtbar zu machen“, sagt sie. Mit ihrem noch jungen Verlag hat sie auch Ruth Klügers an der Freien Universität gehaltenen Vortrag „Anders lesen – Bekenntnisse einer süchtigen E-Buch-Leserin“ im Programm. Ruth Klüger muss nach dem Ende der Veranstaltung noch einige Bücher signieren, von Hand und auf Papier, versteht sich.