"Sag, wie hältst du's mit dem Staat?"
Bundesbildungsministerin Annette Schavan hielt an der Freien Universität einen Vortrag über die freiheitsstiftende Kraft von Religion
05.05.2011
Welchen Einfluss haben der Klimawandel und die Katastrophe von Fukushima auf das Verhältnis von Gesellschaft und Religion? Annette Schavan, Bundesministerin für Bildung und Forschung und Honorarprofessorin für Katholische Theologie der Freien Universität, ging in ihrem Vortrag am Dahlem Humanities Center mit dem Titel „Gottesbezug als Freiheitsimpuls“ auf die Beziehungen säkularisierter Gesellschaften zur Religion ein.
Annette Schavans Vortrag bildete den Auftakt eines dreitägigen „Konzeptlabors“, das das Dahlem Humanities Center zum Thema „Verhältnis von Religion und Gesellschaft im 21. Jahrhundert“ an der Freien Universität veranstaltet. Damit werde ein aktuelles Thema aufgegriffen, das wiederum durch den Freiheitsbegriff in engem Zusammenhang mit dem Gründungsideal dieser Universität stehe, sagte Professor Peter-André Alt, Präsident der Freien Universität. Die Islamdebatte im Besonderen und die Beziehungen zwischen den Weltreligionen im Allgemeinen sorgten für „fortdauernden Klärungsbedarf“, dem sich das Dahlem Humanities Center als eines der fünf Focus Areas der Freien Universität zu Recht stelle.
Annette Schavan, seit 2008 Honorarprofessorin für Katholische Theologie an der Freien Universität, wandte sich als Wissenschaftlerin an das akademisch geprägte Publikum. Ausgehend von der christlichen Tradition Europas und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung Deutschlands nach 1945 spannte die Theologin den Bogen in die Gegenwart. Vor geraumer Zeit habe die Wissenschaft die Aufgaben des Sinnstiftens und Erklärens von der Religion übernommen. Der Bedeutungsverlust der Kirchen und ein neues Gesellschaftsbild, in dem das Individuum einen höheren Stellenwert einnehme als die Gemeinschaft, stünden in der Gegenwart allerdings Entwicklungen gegenüber, in denen der Mensch an die Grenzen der Beherrschbarkeit von Natur und Technik stoße. Durch globale Bedrohungen wie etwa den Klimawandel oder die atomaren Katastrophen in Tschernobyl und Fukushima sieht die Theologin den Glauben an den menschlichen Fortschritt erschüttert: „Diese Probleme stehen für eine neue Machtlosigkeit des Menschen und werfen neue Fragen auf", sagte Schavan. „Eine Revitalisierung der Religionen“ weltweit führe nun dazu, dass das jeweilige Verhältnis zum Staat neu ausgelotet werden müsse.
Annette Schavan rief die Prozesse der Säkularisierung, die Geschichte Europas mit seinen vielfältigen Ausprägungen christlichen Glaubens sowie die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik in Erinnerung. Die wechselseitige Toleranz und Anerkenntnis unterschiedlicher Werte als kulturelle Errungenschaft Europas betonte Schavan dabei insbesondere. Im Laufe der deutschen Geschichte sei mit der bundesrepublikanischen Demokratie eine Staatsform entstanden, die Freiheit und Toleranz fördere: „Der Staat hat eine Schutzfunktion in Hinblick auf den Glauben der Bürgerinnen und Bürger“, betonte Schavan.
Zu Heiterkeit im Publikum führte das von Schavan abgewandelte Goethe-Wort „Wie hältst du’s mit dem Staat?“ – eine Frage, die es angesichts der Islamdebatte zu beantworten gelte. In Anbetracht der Furcht vor neuen Auseinandersetzungen, vor der Gefährdung des Friedens durch religiöse Konflikte, müssten Fragen der Demokratiefähigkeit und Toleranz heute neu bestimmt werden. Fächer, die an der Freien Universität gelehrt und erforscht würden, wie etwa die Regionalwissenschaften und die Islamwissenschaft könnten dazu einen wesentlichen Beitrag leisten, schloss Schavan.