„Nähe ja, Grenzüberschreitung nein“
Ein Jahr nach Canisius-Kolleg und Odenwaldschule: Ein Gespräch mit Pädagogikprofessor Jürgen Zimmer von der Freien Universität
27.01.2011
Ende Januar vergangenen Jahres hatte der Rektor des jesuitischen Canisius-Kollegs in Berlin, Pater Klaus Mertes, seine Schüler und die Öffentlichkeit in einem Brief über den systematischen sexuellen Missbrauch in den siebziger und achtziger Jahren an der Schule informiert. Im März wurden die Vorfälle an der reformpädagogischen Odenwaldschule bekannt. Campus.leben sprach mit Jürgen Zimmer, Pädagogikprofessor an der Freien Universität, und Präsident der Internationalen Akademie für innovative Pädagogik, Psychologie und Ökonomie (INA), über Opferschutz, die Ausbildung von Pädagogen und das „Kartell des Schweigens“.
Herr Professor Zimmer, als die Missbrauchsvorfälle am Berliner Canisius-Kolleg und der Odenwaldschule Anfang vergangenen Jahres bekannt wurden, lagen manche der Fälle fast 30 Jahre zurück. Warum haben die Opfer so lange gebraucht, um über das Erlebte sprechen zu können?
Das kann verschiedene Gründe haben. Viele Betroffene haben möglicherweise erst an den Spätfolgen erkannt, dass die Vorfälle sie noch immer belasten: Noch Jahre nach dem eigentlichen Ereignis können etwa Angstattacken oder Schlafstörungen erstmals auftreten. Hinzu kommt, dass es nicht nur ein privates Umfeld braucht, das Offenheit möglich macht, sondern auch ein bestimmtes gesellschaftliches Klima.
Und in den siebziger und achtziger Jahren herrschte kein Klima, in dem Opfer sprechen konnten?
Man muss hierzu die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung sehen und gut 100 Jahre zurückschauen. Pädophile haben zu verschiedenen Zeiten versucht, sich als eine Art politische Bewegung zu definieren und auf Straffreiheit hinzuwirken. Das ging bis in die Nachkriegszeit hinein. Mit der Studentenbewegung in den sechziger Jahren wurde alles in Frage gestellt: Private Beziehungen wurden als bürgerliches Besitzdenken diskreditiert, innerhalb der Sexualwissenschaften gab es weitgehende Öffnungen in alle möglichen Tabubereiche. Denken Sie an die Diskussionen innerhalb der GRÜNEN noch Mitte der Achtziger Jahre. All das könnte die Opfer verunsichert haben. Feststeht natürlich: Ganz egal, was zu bestimmten Zeiten unter Revolutionierung des Lebens und der Liebe propagiert worden ist, niemals darf das Machtgefälle zwischen Kindern und Erwachsenen einfach wegdiskutiert oder missbraucht werden.
Was bedeutet das?
Der springende Punkt ist, dass bei sexuellem Missbrauch die erwachsenen Täter das Machtgefälle leugnen und damit ihre eigene Beschützerrolle pervertieren.
Pädagogen müssten dieses Gefälle in besonderem Maße anerkennen. Wie konnte es dazu kommen, dass Pädophile Pädagogen so lange unentdeckt blieben?
Weil alle geschwiegen haben. Wir nennen das das „Kartell des Schweigens“. Man ahnt etwas, aber man redet nicht darüber, es gibt Gerüchte, aber niemand bemüht sich um die Wahrheit.
Wer schweigt – und warum?
Die Opfer schweigen aus Scham, aus Angst vor Repressionen – oder weil sie das Ereignis verdrängt haben. Die Täter schweigen, weil sie wissen, dass sie kriminell handeln, auch wenn sie paradoxerweise in der Regel kein Unrechtsbewusstsein entwickeln. Aber das Thema ist auch von den Medien nicht aufgegriffen worden. Der erste Artikel 1999 in der Frankfurter Rundschau, in dem über Vorfälle an der Odenwaldschule berichtet worden ist, hat keinerlei Reaktionen hervorgerufen. Weder haben sich danach weitere Journalisten um die Fälle gekümmert, noch hat sich die Schule selbst um Aufklärung bemüht, noch haben sich Opfer gemeldet.
Was hat die Pädagogik daraus gelernt?
Ganz wichtig scheint mir, dass wir Opfer möglichst früh zum Sprechen bringen, denn das vermeidet potenzielle neue Opfer. Ein anderer Punkt sind die Täter. Es gibt nicht den einen Tätertypus, aber es gibt die Frage, wie Täter zu Tätern werden. Was ist da in der Biografie passiert? Sind sie therapiefähig oder –resistent?
Universitäten bilden auch Pädagogen aus, Lehrer, Erziehungswissenschaftler. Wie kann das Thema hier eingebunden werden?
Denkbar wäre, dass in Lehrveranstaltungen die Strukturen von pädagogischen Einrichtungen analysiert werden. Man könnte über Täterprofile und -strategien sprechen, über Spätfolgen bei Opfern, den Schutz von Kindern oder das schon angesprochene „Kartell des Schweigens“. Man könnte Beratungsstellen hinzuziehen und Zeugen, die authentisch berichten könnten: Täter, wenn möglich, und Opfer, die sprechen wollen.
Gibt es universitäre Forschung zum Thema sexueller Missbrauch in Bildungseinrichtungen? Wie könnte sie aussehen?
Bisher ist das Thema in der Forschung nur marginal behandelt worden. Ein Weg könnte sein, dass man sich auch hier die Strukturen von pädagogischen Einrichtungen ansieht. Ein Gegenbeispiel zur Odenwaldschule stellt etwa die Hermann Lietz-Schule dar, ein 1928 gegründetes Internat auf der Insel Spiekeroog mit reformpädagogischer Tradition. Hier leben die Kinder auch in „Familien“ wie in der Odenwaldschule, aber man lässt die Familien nicht mit den Kindern allein. Es gilt das Mehr-Augen-Prinzip: Jeden Abend machen zwei Lehrer einen Rundgang, sehen in alle Zimmer und vergewissern sich so, dass alles in Ordnung ist. Diese Lehrer wechseln, so dass es keine Kartellbildung geben kann.
Wie können wir mit unserem heutigen Wissen Kinder schützen?
Ganz wichtig ist es, frühzeitig mit ihnen zu reden. Genauso wie wir ab einem bestimmten Alter erklären, wie die Babys auf die Welt kommen, müssen wir Kinder auf mögliche Gefahren durch sexuellen Missbrauch aufmerksam machen.
Wie macht man das, ohne dass Kinder Angst bekommen?
Täter testen in der Regel, ob Kinder zu potenziellen Opfern werden können. Man kann Kindern also beibringen zu erkennen, wie Täter antesten. Und sie ermuntern, in einem solchen Fall mit den Eltern zu sprechen. Wichtig ist, dass Kinder in einer Atmosphäre und einem Umfeld groß werden, in dem die eigenen Grenzen – körperliche und seelische – respektiert werden. Allerdings warne ich auch davor, dass Pädagogen sich nicht mehr trauen, ein Kind zu umarmen. Also: Nähe ja, Grenzüberschreitung nein.
Was sollen Erwachsene tun, wenn sie einen Verdacht haben?
Man sollte sich auf jeden Fall vor dilettantischen Fragen hüten. Da ist viel Unsinn betrieben worden. Auch mit zum Teil verheerenden Folgen für zu Unrecht Beschuldigte. Am besten holt man sich professionelle Hilfe. In Berlin bieten das Organisationen wie „Tauwetter“, „Strohhalm“ oder „Wildwasser“ an.
Die Fragen stellte Christine Boldt