„Ich habe mich gewundert, dass die Studenten erst jetzt protestieren“
Eberhard Diepgen diskutierte an der Freien Universität mit Studierenden über die 68er Bewegung und etwaige Parallelen zum aktuellen Bildungsstreik
22.12.2009
Eberhard Diepgen ist wieder an seiner Alma Mater. Der ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin hat an der Freien Universität Rechtswissenschaft studiert und war 1963 Vorsitzender des Allgemeinen Studentenausschusses (AStA). Die studentische Hochschulgruppierung "Ring Christlich-Demokratischer Studenten" (RCDS) hatte ihn nun zu einer Diskussionsveranstaltung über die 68er Bewegung und die Parallelen zur heutigen Studentenbewegung eingeladen.
„Ich habe mich gewundert, dass die Studenten so lange nicht protestiert und erst jetzt damit begonnen haben“, sagte Diepgen. Mit Professor Martin Schwab, Prodekan des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin und Monika Grütters, Mitglied der CDU-Bundestagsfraktion und Honorarprofessorin am Institut für Kultur- und Medienmanagement der Freien Universität, diskutierte er über die Proteste von Studierenden, Parallelen zur 1968er Bewegung und über bessere Studienbedingungen.
Einsatz für selbst organisierte Tankstellen und Studentenwohnheime
Zu Beginn seiner Zeit als Studentenvertreter habe er sich für eine selbst-organisierte studentische Krankenversicherung, selbst-organisierte Tankstellen und Studentenwohnheime eingesetzt. Später seien seine Mitstreiter jedoch von der konkreten Reform der Bildungsinstitutionen zur Reform der Gesellschaft übergegangen, sagte Diepgen. „Der Staat hat damals viel zu spät auf die Proteste reagiert und dann kapituliert.“ Dadurch hätten sich die Studenten auch mit Forderungen durchsetzen können, die ihnen zu viel Macht einräumten. So entschieden Studenten heute zum Beispiel mit über Habilitationsvorhaben und Neuberufungen von Professoren. „Ich sehe die Gefahr, dass die Politik aufgrund der Proteste wieder Entscheidungen fällen könnte, die nicht vernünftig abgewogen sind“, sagte Diepgen.
Professor Martin Schwab erzählte von den Studenten- und Schülerprotesten am 16. Juni dieses Jahres vor dem Roten Rathaus, an denen er selber teilgenommen hatte. Der Rechtswissenschaftler berichtete von den unterschiedlichen Transparenten der Studierenden, die sich nicht nur gegen den Berliner Senat und die Bundesbildungsministerin richteten, sondern auch „reiche Eltern für Alle“ forderten. „Daher stellt sich für mich die Frage, gegen wen wir eigentlich protestieren sollen“, sagte Martin Schwab. Für ihn gibt es mehrere zentrale Protestgründe. „Viele Studierende haben Angst vor der Arbeitslosigkeit.“ Auch seien die derzeitigen Studienbedingungen für viele ein wichtiger Protestgrund. An seinem Fachbereich betrage die Relation der Professoren pro Student 1 zu 140.
Minderheit oder Mehrheit?
Monika Grütters berichtete aus ihrer Arbeit als Mitglied des Bildungsausschusses des Bundestages. „Es ist eine Minderheit der Studierenden, die streikt“, sagte Grütters. Deshalb solle man aus den Bildungsprotesten nicht einen gesamtgesellschaftlichen Aufschrei kreieren. Es sei allerdings gut, dass Bildung wieder zu einem gesamtgesellschaftlichen Thema werde. Grütters plädierte für eine Verlängerung des sechssemestrigen Bachelorstudiengangs auf acht Semester. „Die Universität kann aber nicht zu einem Schutz- und Schonraum für weniger Leistung werden.“
Eberhard Diepgen ging zum Schluss auf die Frage von Martin Schwab nach einem geeigneten Protestgegner ein. Er empfahl den Studierenden, nicht einzelne Politiker, sondern die politischen Parteien zu ihren Protestgegnern zu machen. Denn diese hätten es allesamt in den vergangenen Jahren versäumt, die Studienbedingungen zu verbessern, sagte er und übte damit auch Selbstkritik. In den 1990er Jahren mussten die Hochschulen Berlins unter dem Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen entscheidende finanzielle Einschnitte hinnehmen. Von den rund 640 Professuren an der Freien Universität vor der Wiedervereinigung blieben im Jahr 2000 rund 370 übrig.