„Von den meisten Rückrufaktionen bekommen Kund*innen gar nichts mit“
Marketingprofessor Sascha Raithel forscht zu Produktrückrufen durch Unternehmen und hat Tipps für Verbraucher*innen
19.12.2025
Gut gelöst: Produktrückruf durch ein großes Unternehmen, das mit einem Aufsteller im Laden darauf hinweist.
Bildquelle: Marco Verch / Creative Commons 2.0
Sascha Raithel ist Professor für Marketing am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Freien Universität Berlin. Er untersucht, wie Unternehmen bei Rückrufaktionen agieren und wie Kund*innen besser geschützt werden können. Für sein gemeinsam mit Setareh Heidari und Jan von Schlieben-Troschke verfasstes Fachbuch „Product Recall Management“ ist er nun mit dem 2025 EU Product Safety Gold Award der Europäischen Kommission ausgezeichnet worden. Ein Gespräch über mangelnde Kommunikation, Best-practice-Beispiele und eine App, die täglich über Rückrufaktionen informiert.
Herr Professor Raithel, in welchen Situationen rufen Unternehmen ihre Produkte zurück?
Produkte werden zurückgerufen, wenn Kund*innen diese aus Sicherheitsgründen nicht mehr benutzen oder konsumieren sollten. Aus den Medien bekannt sind große Aktionen von Autoherstellern, beispielsweise bei Problemen mit dem Airbag-System, den Bremsen oder der Batterie. Rückrufe finden aber über alle Produktkategorien hinweg statt. Das betrifft Nahrungsmittel, Spielzeug oder Modeartikel.
Auf www.lebensmittelwarnung.de publizieren die Bundesländer oder das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) öffentliche Meldungen und Informationen im Sinne des Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuches (LFGB).Bei Nahrungsmitteln geht es häufig um Verunreinigung, etwa durch Bakterien oder Metallsplitter. Oftmals geht es auch um Nussspuren, die für Allergiker*innen lebensgefährlich sein können. Auch Küchenutensilien oder Kleidungsstücke können gefährlich werden, etwa wenn krebserregende Stoffe entdeckt werden. Kund*innen werden dann gebeten, die Produkte umzutauschen oder reparieren zu lassen.
Wie häufig finden solche Aktionen statt?
In den USA, der EU und China gibt es pro Jahr mehr als 10.000 Rückrufaktionen. Insgesamt werden jährlich rund 10 Milliarden Produkteinheiten zurückgerufen. Rein statistisch gesehen ist man als Kund*in in Deutschland etwa einmal im Jahr von einer Rückrufaktion betroffen.
Rund einmal im Jahr benutze oder konsumiere ich also ein Produkt, dass ich besser zurückgeben sollte?
Genau. Das Problem ist nur, dass die wenigsten Kund*innen je davon erfahren. Man muss statistisch davon ausgehen, dass jeder Mensch ab und an schlechte Lebensmittel isst. Man fühlt sich ein paar Tage nicht so gut und denkt, man hat sich einen Virus eingefangen – es kann aber auch an einem verunreinigten Joghurt gelegen haben.
Wo liegt das Problem aus Ihrer Sicht?
Es wird viel zu wenig in die Breite und meist nicht rechtzeitig informiert. Die meisten Unternehmen bekommen bei erforderlichen Rückrufaktionen erst einmal Angst. Sie fürchten hohe Kosten und Reputationsschäden. Sie erfüllen daher zumeist nur die sehr niedrigen gesetzlichen Mindeststandards. In der Regel verschicken Unternehmen lediglich eine Pressemitteilung. Zusätzlich wird der Rückruf auf der Webseite der zuständigen Behörde veröffentlicht. Als normaler Kunde lese ich allerdings weder Pressemitteilungen noch Behördenwebseiten – und so erreichen die allermeisten Rückrufaktionen die Menschen nicht.
Wie lässt sich das ändern?
Auf dem gesetzlichen Weg geschieht gerade sehr viel. Insbesondere die Europäische Kommission ist beim Thema Verbraucherschutz stark aufgestellt. Auf globaler Ebene wurde vor wenigen Tagen, am 15. Dezember, eine UN-Resolution zu dem Thema verabschiedet werden. Vor allem müssen aber auch die Hersteller ins Boot geholt werden. Ich hoffe, dass meine Forschung dazu beitragen kann, Unternehmen zu einem offeneren Umgang mit Rückrufen zu bewegen.
Inwiefern?
Wir können zeigen, dass Unternehmen, die Rückrufaktionen effektiv gestalten, in der Regel auch einen höheren Unternehmenserfolg verzeichnen. Sie vermeiden hohe Kosten durch Unfälle und Schadenersatzansprüche und haben langfristig zufriedenere Kund*innen. Wenn man einen Rückruf gut durchführt, sind der Vertrauensverlust und Reputationsschaden viel geringer, als wenn man versucht, die Sache unter den Teppich zu kehren und wenn am Ende ein Unglück geschieht.
Haben Sie Beispiele?
Man könnte etwa den Umgang von IKEA mit Sicherheitsmängeln ihrer Möbel diskutieren. Der Fall war in den vergangenen Jahren groß in den Medien. Mehrmals waren Wandregale und -schränke der Marke umgefallen, als Kleinkinder mit den Schubladen gespielt haben. Einige der Kinder wurden dabei von den umfallenden Möbeln erschlagen. Das Problem war bereits seit den 1990er Jahren bekannt. Es gab auch damals schon Rückrufe und anschließend Sicherheitshinweise in den Montageanleitungen. Allerdings wurden die Risiken nicht offensiv kommuniziert. So kamen weitere Kinder zu Tode. Für IKEA war der moralische und finanzielle Schaden am Ende sehr groß.
Wie kann man es besser machen?
Anfang dieses Jahres klagten in den Niederlanden mehrere Kinder über starke Übelkeit, nachdem sie Fruchtgummis der Marke Haribo gegessen hatten. Angeblich waren die Produkte mit Cannabis versetzt. Der Fall erregte dadurch große Medienaufmerksamkeit. Haribo hat souverän reagiert und die Produkte sehr effektiv zurückgerufen. Beispielsweise haben sie auf ihrer Webseite umgehend einen großflächigen Banner installiert.
Haben Sie einen Tipp für Kund*innen, die besser über Rückrufe informiert werden wollen?
Für Lebensmittel und viele Bedarfsgegenstände gibt es in Deutschland eine sehr gute staatliche Anlaufstelle. Auf www.lebensmittelwarnung.de veröffentlichen die Behörden der Bundesländer und das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit aktuelle Informationen. Man kann sich den Service auch per App aufs Handy holen. Man bekommt dann Warnungen per Push-Nachricht. Ich nutze die App selbst und bekomme täglich ein bis zwei Meldungen.
Die Fragen stellte Dennis Yücel


